Die Reise nach China

 

Der sparsame Schwabe und Bänker Jonathan Fischer überlegte sich, was er mit dem Geld auf seinem eBank-Tagesgeldkonto bei der Volksbank Plochingen eG, die einen wesentlich besseren Zinssatz, als seine Sandbank Denkenstadt eG anbot, anfangen sollte. Durch seinen Mercedes-Benz Verkauf und der erfolgreichen Spekulation mit den VW-Optionsscheinen hatte er eine Summe von DM 66.000,- angespart. Als er sich die Prämie für den reichlich+viel Sprit verbrauchenden VW-Turbosportwagen von der R+V Versicherung ausrechnen ließ, verwarf er den ersten Gedanken eines Spaß machenden Volks-Porsches schnell wieder.

Außerdem wollte er ja eine Familie mit Kindern, wie sein brüderliches Vorbild Thomy gründen. Also inspizierte er verschiedene Autohäuser und verschlang hochglänzende Verkaufsprospekte, bis eine Anzeige in der Esslinger Zeitung noch mehr Appetit in ihm anregte. Einer der naheliegenden EU-Neuwagenhändler bot einen aus Italien importierten, grasgrün-metallischen Opel Vectra mit 115 PS für 33.000,- DM an. Die umfangreiche Ausstattungsliste und das fünftürige Mittelklasseauto sogleich in Untertürkheim inspizierend, folgerte der Taschenrechner in Jonathans Kopf, dass er dieses Auto ohne viel Wertverlust verkaufen kann, falls er doch einmal eine Bibelschule in Übersee besucht. Jonathan empfand ein besonderes Glücksgefühl, als er mit einem Stand von acht Kilometer in die Tankstelle einbog und die rund gebogene Motorhaube mit den fließend verlaufenden Scheinwerfern und Seitenspiegeln betrachtete. Nun fehlte im nur noch die richtige Frau auf dem Beifahrersitz. „Hey, du sollst dich nicht schon wieder in dein Auto verlieben!“, rief die zufällig an der Nachbartanksäule einparkende Vera Fischer ihm zu und wollte das schöne Stück trotzdem von Innen betrachten. Als die brünette, braunäugige Schlankheitskönigin mit den unendlich langen Beinen sich zu ihm setzte, lief gerade passend dazu der Song „His banner over me is love“ von Francois Botes am Lenkrad bedienbaren CD-Radio. Sämtlicher Schmerz über den Verlust seiner früheren Busenfreundin und Untermieterin Helen war verflogen, als Vera ihn freundschaftlich umarmend ein Bussi zum Abschied auf die Wange gab und in ihr rotes VW Golf Cabrio stieg. „Ach, bevor ich es vergesse, bei mir findet am Sonntag Nachmittag ein Chinagebetskreis statt. Kommst du vorbei?“, lud ihn die alte Bekannte ein. Natürlich besuchte er sie am Wochenende in ihrer schönen, bereits abbezahlten Wohnung in Heumaden. Er hatte gerade in der Kassettenserie „Wie du deine Braut gewinnst“ von Joyce Hickey gelernt, dass Liebe eine Entscheidung unabhängig von den aus Kino und Fernsehen geformten Vorlieben ist. Viele Singles würden Gott in ihren Gedanken vorwerfen, dass er ihnen keinen Partner gegeben hätte. Doch später bekämen sie im Himmel einmal eine besondere Filmvorführung mit einer anschaulichen besseren Hälfte, die sie blindlings abgelehnt haben. Dabei wäre der Heilige Geist in Gestalt des Knechts Elieser schon längst mit der verschleierten Rebekka, beim auf dem Feld Ausschau haltenden Isaak, angekommen. Die Leute sollten ihren Verstand erneuern, indem sie auf die innere Schönheit des Herzens achten, anstelle eine Marilyn Monroe oder einen Richard Gere Kopie zu erwarten.

Der Noch-Single-Traumprinz glaubte, einen Fehler in dem Freundschaftsseminar gefunden zu haben. Anstelle des berühmten, blonden und blauäugigen Sexsymbols hätte die brünette, braunäugige Pretty Woman Julia Roberts genannt werden müssen, dachte er jedenfalls zunächst.

 

Jonathan fragte sich, ob die Einladung von Vera für den Chinagebetskreis nicht wieder ein Wink mit dem Zaunpfahl war, als er an der Eingangstür klingelte. Warum hatte er sie nach langer Zeit wieder zufällig getroffen? Sollte das symphatische schwäbische Mädel etwa ein Auge auf ihn geworfen haben? Als Jonathan Vera zum ersten Mal bei der Leichtathletik WM traf, dachte er sich sofort: Diese Frau würde ich sofort heiraten. Er ging dem Gedanken nur nicht weiter nach, weil sie sieben Jahre älter als er war, und er sich so einen hohen Altersunterschied nicht vorstellen konnte.

In der Heumadener Dreizimmerwohnung von Vera wurde Jonathan zunächst von einer anderen alten Bekannten, die an die Tür trat, begrüßt. Reinhild Scheu war zugegen. Die Badeerinnerungen aus dem Albanienurlaub wurden wieder wach gerüttelt, als er ihr die Hände schüttelnd entgegentrat. Was für eine samtige, zarte Haut, da in seiner Hand lag. Am Liebsten hätte er sie noch länger betastet.

Die Attraktion des Meetings klingelte an der Tür, und ein schlauer Chinese, den Jonathan auf Mitte 40 schätzte, trat ein. Sein Vortrag handelte natürlich über China. Ein Abenteuer jagte das nächste, ein Zeichen folgte dem nächsten Wunder in seiner Erzählung. Er bekam den Namen „Himmelsbürger Diao“, weil zwei Engel ihn ohne Schlüssel aus einem chinesischen Gefängnis herausgeführt haben sollen. Er wurde dort jahrelang festgehalten und erlebte die übernatürliche Befreiung, nach einer langen vierzigtägigen Fastenzeit. Als er in die ungläubigen Gesichter blickte, untermauerte er seine Behauptungen, indem er seinen Oberkörper freimachte. Er konnte zu jeder Narbe und Verletzung eine besondere Geschichte erzählen. An einem Tag wäre er sogar von einem Erschießungskommando mit sieben Kugeln am Oberkörper getroffen worden. Er zeigte sieben kleine rote Narben auf seiner Brust, von denen jede wie ein Storchenbiss aussahen. Jonathan wusste immer noch nicht, ob er diese Sache glauben sollte. Er erinnerte sich an ein Bekenntnis des bekannten asiatischen Pastors Benny Cho, in dem er öffentlich Buße für seinen Hang zu Übertreibungen tat. David Diao fuhr mit einer Jonathan bestens bekannten Schriftstelle fort. Dann betete ich: „Keine Waffe, die sich gegen mich erhebt wird Erfolg haben, und jede Zunge, die mich vor Gericht schuldig spricht, werde ich verdammen.“ Dadurch konnten die Kugeln ihm nichts Schlimmes anhaben. Eine Gebetszeit wurde eingeläutet. Die vier abwechselnd stehend, oder auf einem Stuhl im Kreis Sitzenden, fassten sich an den Händen und beteten drei Stunden am Stück. Jonathan hätte diese Ausdauer fordernde Zeit nicht durchgehalten, wenn er nicht andauernd neben sich Veras und Reinhilds Hände gespürt hätte. Ein so starkes und anhaltendes Gebet, das der Chinese anleitete, hatte Jonathan noch nie erlebt. Der himmlische Diao erklärte, dass sich die verfolgte Untergrundgemeinde in den ländlichen Gebieten trifft, um oft tagelang für die gefolterten Geschwister in den Konzentrationscamps zu beten. Er hätte immer noch zahlreiche Freunde, die in Umerziehungslagern und Gefängnissen aufgrund ihres Glaubens an Jesus Christus geknechtet werden. Ein Nachfolger Jesu solle in seinen Gebeten nicht immer an sich selbst und seinen Wohlstand denken, sondern in Fürbitte für die weltweit verfolgten Christen eintreten. An den bewundernden Blicken von Vera konnte Jonathan erkennen, dass sie sich in David verliebte. Das fand er nicht einmal schlecht, da er sich gerade in die wie Sharon Tate, das Fotomodell, aussehende Reinhild verguckt hatte. David Diao erzählte, dass er an Ostern anlässlich einer großen christlichen Konferenz in Lüdenscheid, weiter von seinen Gotteserfahrungen berichten wird und lud alle ein mitzukommen. Vera ließ sich nicht zweimal bitten, und Reinhild war auch gleich mit dabei. In seinem menschlichen Uneigennutz, brauchte sich Jonathan gar nicht zu fragen, ob er mit will oder nicht. Der Autoexperte schlug vor, alle in seinem nagelneuen Vectra mitzunehmen. Das Angebot wurde sogleich dankbar angenommen und war für die um die Ecke wohnenden Reinhild der Anlass, ihn um eine weitere Gefälligkeit bei ihr zu Hause zu bitten. Sie zeigte ihm ihr in der Doppelgarage stehenden goldmetallischen BMW Z3 M-Roadster, dessen eingerastetes Lenkradschloss, sie wegen der mehrmals ausgelösten Alarmanlage nicht zu öffnen wagte, und dessen nicht funktionierende Armaturenbeleuchtung scheinbar eine neue Sicherung benötigte. Der schlüsselrüttelnde Technikexperte fand schnell heraus, dass die Fabrikantentochter lediglich den Beleuchtungs-Dimmer zu schwach eingestellt hatte, und daraufhin erklärte er die Funktionsweise des Diebstahlwarnsystems. Hinter dem Lenkrad sitzend nahm Jonathan gerne die Einladung an, die von 321 Pferden angetriebene, rundliche Coupe-Kutsche zur Sillenbucher Eisdiele zu bewegen. Am Parkplatz einbiegend gab der Sportwagenfahrer stärker Gas, um den brummenden Sound aus der vierröhrigen Auspuffanlage ertönen zu lassen und seine Beifahrerin ein letztes Mal in die Schalensitze zu drücken. Dabei erschreckte er einen aus seinem Mercedes steigenden, symphatischen älteren Herrn. „Du hasch dr Führerschei wohl in Afrika bei dr Fremdelegion gmacht“, war der Kommentar des witzigen Nostalgie-Bürgermeisters. Beim Schlecken der Coppa Dolomiti ergaben sich weitere interessante drei zwei eins Überkreuzgespräche mit dem Ritter und Kommandeur der Ehrenlegion Manfred Rommel.

Bei der Rückfahrt zeigte sich der fürsorgliche Lichtexperte gerne bereit, in das Heumadener Reiheneckhaus mitzukommen, um eine nicht mehr funktionierende Halogendeckenlampe zu reparieren, die nur ein kleines Kontaktproblem hatte. Der Volksbank-Immobilienexperte, der Exposes und Besichtigungsprotokolle anfertigte, schätzte den geschmackvoll eingerichtete Neubau auf einen Wert von einer Million D-Mark. Damit traf er exakt den Kaufpreis, den die vielleicht zukünftigen Schwiegereltern, die unangekündigt an der Tür klingelten, vor einem Jahr dafür bezahlt hatten. Der scheuen Reinhild war es peinlich, dass Jonathan und der Konservendosen herstellende Vater sich bei einem Stuttgarter Hofbräu Export und Salzstangen gleich beim ersten Kennenlernen eine Stunde lang über das Bank- und Kreditwesen austauschten. Der Papa Bernd war immer unglücklich, dass das Einzelkind nicht in seine Fußstapfen treten wollte und freute sich darüber, in Fischer einen möglichen Nachfolger an Land gezogen zu haben. Die einen attraktiven braungebrannten Körper aufweisende Mutter Sonja zerbrach sich den Kopf darüber, wo sie Jonathan schon näher gekommen sei. Nach langem hin und her klärte er die Preisskat Spielende darüber auf, dass sie schon in der vernebelten Sauna des Filderado nicht begriffen haben, wo ihr erster Kontakt zustande gekommen war. In der Tat hatte er die äußerlich jung gebliebene Mama Scheu mehrmals im Fasanenhof beschnuppert und außer Karten auch eine Partie Freiluftschach mit ihr gespielt. Nachdem man sich wieder erwärmt hatte, verabschiedete sich Jonathan von allen Beteiligten mit einem hochroten Kopf.

 

Auf dem Heimweg fand der viele Züge voraus rechnende Denker die Idee lustig, dass die aufräumende Ingenieurin des Stuttgarter Abfallwirtschaftsbetrieb den, in seinem chinesischen Umwelttechnologie-Studium wegen Rausschmiss erfolglosen Prediger heiraten sollte. Denn er würde als Internationaler Schachmeister und cleverer Banker besser zur gleichaltrigen Zahnärztin und Millionärin passen. Und AWG (- alle werden glücklich -:) wie der Werbespruch eines Textilunternehmens lautet. Tatsächlich würden einmal die Hochzeitsglocken für alle vier ertönen.

Bei Vera, die ihren David während der karfreitäglichen, vierstündigen Autobahnfahrt pausenlos auf der Rückbank anhimmelte, dauerte das zweisame Glück nicht lange. In Lüdenscheid angekommen, konnte man sie interessiert Hand in Hand an den Ständen der weltweit tätigen Missionsgesellschaften vorbei schländern sehen. Die Beifahrerin Reinhild und ihr Lenker Jonathan, die nach Männern und Frauen getrennt auf einer Isomatte in Turnhallen übernachteten, ließen sich zunächst mehr Zeit, einander näher zu kommen. Bei einem gemeinsamen Abendessen berichteten die drei Teilnehmer der Albanienreise dem wundergläubigen David, die spannenden Erlebnisse ihrer Reise. Die blauäugige Blondine gestand Jonathan bei einem letzten Schwätzchen vor dem Schlafen gehen, dass sie ihn ganz besonders gern hat. Sie bewunderte ihn in erster Linie, als er sie auf der Gebirgsstrasse im Kofferraum so vehement vor den vermeintlichen Angriffen der Polizei schützen wollte.

An jedem Tag über die Osterfeiertage gab es drei Gottesdienste mit verschiedenen Rednern. Jonathan hatte noch nie Frauen so herzergreifend und bewegend predigen hören, wie Heidi Hatting, Jackie Baker und Suzette Pullinger, die in christlichen Kreisen weltberühmt waren. Auch David Diao riss seine Zuhörer mit, was Jonathan jedoch nicht ganz so spannend empfand, weil er die Geschichten ja bereits kannte. Der Hauptredner Walter Cunningham von der Jugend- und Missionsgesellschaft machte von sich reden, weil er die unglaubliche Vision hatte, dass tausende von Jugendlichen das Evangelium von Jesus Christus in die Mongolei bringen. Er hätte den Weg schon vorbereitet, indem er ein riesiges Konzert in der Wüste Gobi mit einer Himmelsmusik-Band namens Tengerin Do vor unzähligen anwesenden Engeln abgehalten hätte. Jonathan beeindruckte noch mehr, von den gewichtigen Hilfsgüterlieferungen in das arme Land zu erfahren. Ein Freund Davids durfte am Mikrofon vor den 4000 meist jugendlichen Konferenzteilnehmern sprechen. Er hieß Andrew Taylor, war 70 Jahre alt, und ungeheuerlich respektiert als Gründer eines Hilfswerks für weltweit verfolgte Christen. Er hatte dafür gesorgt, dass David in Deutschland politisches Asyl bekam. Der Brite Brother Andrew nannte sein Missionswerk Esel für Jesus-Dienste und erläuterte warum. Das einzige Säugetier nach dem Jesus verlangt hätte, wäre ein kleiner Esel gewesen auf dem er an Palmsonntag in Jerusalem einritt. Die Zuhörer sollten sich deshalb nicht so störrisch verhalten und das Wort Gottes, das laut dem Johannesevangelium ein Synonym für Jesus sei, nach China hinein schmuggeln. Bruder Andrew wurde auch Schmuggler Gottes genannt, weil er es durch eine Aktion schaffte, eine riesige Schiffsladung von Bibeln unbemerkt von den Behörden ins chinesische Festland zu bringen. Er bezeugte, dass es zwar riskant, aber auch lohnenswert sei den Esel zu spielen. Vor 14 Jahren wäre er in Rumänien für ein Jahr ins Gefängnis geworfen worden, weil er als Fahrer einen Lastwagen mit verbotenen Bibeln hineinbringen wollte. Nach einem Jahr hätte ihn die Premierministerin Margret Thatcher höchstpersönlich aus seinem Gefängnis, anlässlich eines Staatsbesuchs bei Ceausescu in Bukarest, befreit. Durch die Inhaftierung wäre sein Dienst überproportional stark gewachsen, da sein Name wöchentlich in der Zeitung erschien und sich die Gelegenheit ergab, eine Reportage mit der BBC zu drehen. In den darauf folgenden Jahren hätte er die große christliche Erweckungsgemeinde in Hongkong aufgebaut und sowohl Kantonesisch als auch Mandarin gelernt. Die Einfachheit der chinesischen Sprache untermauerte er, indem er die Versammlung zum Singen chinesische Lobpreislieder animierte, und er den Zuhörern beibrachte, wie Jesus liebt dich auf Mandarin ausgesprochen wird. Am Ende der Predigt fragte er in einem Appell, wer einen Ruf nach China verspürt und betete für jeden Einzelnen, der sich per Handzeichen gemeldet hatte. Reinhild und Jonathan waren die zwei Letzten, denen er segnend die Hände auf den Kopf legte, und somit wurde die Osterkonferenz beendet.

Auf der Rückfahrt von Lüdenscheid nach Stuttgart begann Jonathan durch seine vielen im Auto gestellten Fragen über Taylor, den lieber mit Vera flirten wollenden David zu nerven. Die störrische Reinhild klinkte sich auch in das Gespräch über den Eselsdienst ein und das Reiseziel für den nächsten Sommerurlaub stand fest.

 

Jonathan und Reinhild hatten für die dreiwöchigen Sommerferien den günstigsten Flug mit China Airlines von Frankfurt nach Hongkong gebucht. Der sparsame Banker Jonathan lernte, dass nicht immer nur der Preis, sondern auch die gesamte Flugzeit inklusive Zwischenstops für das seelische Wohlbefinden entscheidend ist. Sie flogen über Kuala Lumpur nach Taipeh und kamen von dort nach dreiundzwanzig strapaziösen Stunden in Hongkong an. Die Schwarzenegger- und Cruise-Weltenretter-Flugzeugfilme rissen Jonathan genauso wenig vom Hocker, wie der mehrfach ausgezeichnete Liebesfilm „Happy Together“, der ihn mehr an die römischen Soldaten seiner USA Reise erinnerte, anstelle lustvolle Gefühle für China zu wecken. Da man allem etwas Gutes abgewinnen soll, konnte Jonathan und Reinhild jetzt immerhin beanspruchen auch in Kuala Lumpur/Malaysia und Taipeh/Taiwan gewesen zu sein. In Hongkong kündigte der Kapitän einer der unsichersten Fluggesellschaften der Welt, zu Jonathans ehemaligen Hobby passend, den berüchtigten Checkerboard-Anflug an und schaffte es irgendwie, über zahlreiche Wolkenkratzer in den Viktoria Hafen einzuschweben. Am Kai Tak Flughafen holte sie glücklicherweise ein deutscher Angestellter ab, der Peter Anrich hieß, und den Jonathan irgendwo schon mal gesehen hatte. Peter war die Rettung für die beiden, denn bei den vielen fremden Schriftzeichen war es nicht einfach, den Weg mit Bus und Bahn zu ihrer ersten Herberge in Fan Ling zu finden. Jonathan wohnte gemeinsam mit Peter in dessen Zweizimmerwohnung, und Reinhild bekam einen Raum im nahe gelegenen sogenannten Schmugglerhaus zugewiesen. Nachdem sich das Paar vom Jetlag erholt hatte, verbrachten sie eine gemeinsame Zeit im Freibad des nördlichen Stadtteils. Reinhild konnte mit ihrem perfekten Frauenkörper schneller kraulen als Jonathan, der Brustschwimmen bevorzugte. Beim Anblick von Reinhilds Bikini Body erinnerte sich Jonathan an das Modell auf dem Verkaufsprospekt der SDK-Auslandskrankenversicherung, die sie vorsorglich abgeschlossen hatten. Es wurde ihm im Geschäft einmal peinlich, als er das übergroße Bild auf dem Prospektständer bei seiner Volksbank länger betrachtete. Und nun wurden wieder Hormone über Hormone in seinem Körper ausgeschüttet, dass er innerlich vor Verlangen schier zu zerschmelzen drohte. Das blieb nicht nur vor dem himmlischen Vater unverhüllt, sondern auch der unangekündigt hinzugekommene Peter Anrich konnte diese Liebesanwandlungen wahrnehmen. Peter fragte die Zwei wie sie sich kennengelernt hatten und wollte wissen, ob es dem himmlischen Diao gut geht. Er war erfreut zu hören, dass David sich in Rekordzeit verlobt hat und dabei ist, gemeinsam mit Vera, eine neue evangelische Freikirche in Stuttgart aufzubauen. Peter riet den Turteltauben, weiter eine schöne gemeinsamen Zeit zu verbringen und sich zu erholen, denn am nächsten Tag benötigte er sie für einen flotten Postzustellungsauftrag.

Am Abend ließ sich der neugierige Jonathan erste Informationen über den kommenden Arbeitseinsatz von Peter geben. Jonathan hörte sich gerade das Lied „Light the fire again“ mit dem Sänger Brian Doerkson von Vineyard Music auf seinem miniDisc Player von Sony an. Peter bekam den Eindruck, dass Jonathan vor dem Einschlafen eine Kassette auf seinem Walkman anhören sollte, und so wechselnden die kleinen Wiedergabegeräte die Besitzer. Jonathan wohnte in einem kleinen Zimmer mit einem Moskittoschutzfenster in dem die zwei Doppelstockbetten und der Schrank kaum Platz hatten. Er lag alleine auf dem unteren Teil eines der Betten und lauschte der Predigt zu. Die Aufnahme wurde anlässlich einer großen Konferenz für Singles aufgenommen, und der von seiner Scheidung sprechende Lester Murdock erklärte, dass wenn man im negativen Sinn alone – alleine ist, das positiv gesehen als all in one – alles in einem zu interpretieren ist. Das Wortspiel ins Deutsche übertragen ist man nicht alleine, sondern alles in einem. Jonathan hatte das nie so empfunden, denn sein größter Wunsch und Traum war, eine Frau zu bekommen und zu heiraten. In den kleinen Stöpseln des Ohrhörers begann Musik zu erklingen. Lester Murdock spielte am Flügel und sang dazu die Worte: „I´m in love, I´m in love, sweet Holy Spirit I´m in love.“ Jonathan wurde an seinen Englandaufenthalt erinnert und bekam auch ohne Hormonausschüttungen die schönsten Gefühle. Der viel begabte Sänger fuhr fort, es gebe einen Mann der zum späteren Zeitpunkt den Mitschnitt anhört und für den eine Tür zugeht. Er denke es handelt sich um eine vor kurzem begonnene Freundschaft. Dieser Mann sollte nicht traurig sein, weil die Frau nicht für ihn, sondern für seinen Freund gedacht wäre. Jonathan versuchte schnell weiter zu spulen, doch die Kassette war sowieso am Ende angelangt.

 

Am nächsten Morgen trafen sich Reinhild, Peter und Jonathan im Schmugglerhaus. Es war palettenweise mit Bibeln, christlichen Büchern und Prospektmaterial gefüllt. Peter zeigte ihnen eine vierseitige von deutschen Geschäftsleuten des vollen Evangeliums gesponserte Werbung, mit deren Hilfe die göttliche Inspiration der Bibel und der Glaube an Jesus Christus erklärt wurde. Diese wollten sie in den umliegenden Hochhäusern und Gebieten verteilen. Der 99-jährige Pachtvertrag zwischen England und China lief aus, so dass Verbote für derartige Evangelisationsmethoden zu erwarten waren. Viele Christen wanderten darum aus Angst von Hongkong in den Westen aus. Das einzige Problem, das sich beim Prospekt verteilen ergab war, dass man an den Pförtnern bzw. Hausmeistern der Wolkenkratzer vorbeikommen musste und das Material unter deren Beobachtung nicht in die Briefkästen einwerfen konnte. Jonathan hatte seinen Hugo Boss Anzug und Krawatte angezogen und versteckte die Flyer in einer Aktentasche. Jede Wohnungstür in dem zwanzig stöckigen Scharoun-Architekturnachbau wurde bestückt. Wenn ihn jemand ansprach verbeugte er sich und sagte Jesu ei ni, was ihm Andrew Taylor in Lüdenscheid beigebracht hatte. Peter empfahl, dass Reinhild mit ihm in das Nachbarhochhaus mitkommen soll, da sie als Frau gefährdeter sei und kein Kantonesisch sprach. In der Tat war die Sprache mit den sechs verschiedenen Lauten äußerst ungewöhnlich. Anrich beherrschte sie ganz gut, weil er ein Jahr lang als gelernter Arzt bei Suzette Pullinger in einer Drogenentzugsklinik und einem Nachsorgehaus in der benachbarten portugiesischen Kolonie Macao mitgearbeitet hat. Nach drei Tagen waren die Hochhäuser bestückt und die drei beschlossen, in die ländlichen Ortschaften der New Territories (neuen Gebiete) zu gehen. Jonathan hätte nicht gedacht, dass es in Hongkong landwirtschaftliche Betriebe gibt, die ihn an seine geliebte Schwarzwaldverwandtschaft erinnern. Die Schweine stanken nicht nur mächtig, sondern grunzten auch lautstark. Peter erklärte seinen deutschen Landsleuten, dass es in China Tradition ist, bei der Übergabe einer Sache immer beide Hände zu benutzen und sich zu verneigen. Dem Empfänger soll dadurch die Sorge genommen werden, dass sich irgendwo ein verstecktes Briefmesser befindet.

Überall streunten Hunde herum und bellten sie lautstark an. Jonathan wusste, dass diese Tiere die Furcht von Menschen anhand ihrer Schweißausbrüche riechen können und verhielt sich deshalb cool. Bei Reinhild sah die Sache anders aus, denn sie war wegen ihrer Albanienerfahrung zutiefst verängstigt. Sie traute Jonathan nicht zu, sie nochmals zu beschützen und wollte darum in das Schmugglerhaus heimkehren. Der Aufseher Peter schlug statt dessen vor, dass er und Reinhild in die kleinere Ortschaft zurückgehen, um dort die Häuser abzuklappern. Jonathan wollte lieber einen vier Kilometer langen Rundweg, der an den kleinen Bauernhäusern vorbei führte, zu Ende gehen. Er hatte einen ausgezeichneten Orientierungssinn, den er zur Schau stellen wollte, indem er die Landkarte schnappte und seines Weges ging. Neben einem verräucherten, vernebelten, buddhistischen Friedhof hätte er nie im Leben erwartet, einen Rolls Royce Phantom zu finden. Hongkong ist eine Stadt der Reichen, aber dieser Schrotthaufen war ein ausgemustertes Autowrack. Schade, dachte sich Jonathan, es ist doch ein königliches Auto. Weniger königlich fühlte er sich beim Anblick der nächsten Hundemeute. Diesmal waren die Exemplare größer, und dass er alleine war, schien sich nicht förderlich auszuwirken. Die Biester spürten, dass er Angst bekam und fingen knurrend an, ein Stück von seinem Hosenbein abzureisen. „Keine Waffe und kein Hund, der gegen mich angeht, wird Erfolg haben“, proklamierte Jonathan und danach sprach er aus: „Ich bin verliebt in dich, viel geliebter Heiliger Geist“, denn die Tiere mit den scharfen Zähnen und dem weichen Fell ließen sich plötzlich von ihm streicheln. Der Besitzer war hinzugekommen und nahm dankbar eine Broschüre entgegen. In solchen Momenten genießen Evangelisten ihr Leben. Die drei Fragezeichen Detektive trafen sich wie vereinbart an einer Bushaltestelle und kehrten nach der getanen Arbeit zufrieden in ihre Quartiere zurück. Eine Gruppe von drei australischen Männern hatte sich im Zimmer von Jonathan einquartiert und wollte ihnen behilflich sein. Jonathan war gespannt, wie die Kirche aussieht, als der Sonntag gekommen war. Die Erweckungsgemeinde traf sich in einem umgebauten Theater, das die gleichen roten Klappsamtsitze wie die Gemeinde des Königs in Ramsgate besaß. Andrew Taylor predigte über das Heiligtum, das Mose in der Wüste aufbaute. Jonathan erinnerte sich daran, dass er als Junge die ausführlichen Beschreibungen darüber in der Thora überhaupt nicht verstand und äußerst gelangweilt überflog. Anhand der Erläuterungen über den Brandopferalter, das Waschbecken, den siebenarmigen Leuchter, den Schaubrottisch, den Räucheraltar und der Bundeslade erkannte er, dass die katholischen Kirchengebäude fast identisch aufgebaut waren. Das faszinierte ihn. Hätte er doch im Religionsunterricht bei Pfarrer Hermann Benz besser aufgepasst, anstelle unter dem Tisch Schachprobleme zu lösen. Bruder Andrew fuhr fort zu erzählen, dass David und seine Männer von König Saul verfolgt wurden und bei den Priestern der Stiftshütte Zuflucht fanden. Diese hätten den Männern von den bitteren Schaubroten zu essen gegeben und wären kurze Zeit später für diese Hilfeleistung von Davids Feinden umgebracht worden. Selbst der Herr Jesus würde sich im neuen Testament auf diese Stelle beziehen. Er sagte den westlichen Besuchern, sie sollten sich nicht wundern, wenn sie als Esel für Jesus von der chinesischen Geheimpolizei verfolgt werden. Dies wäre nur ein Beweis dafür, Tischgemeinschaft mit dem Leib des Herrn zu haben. Jonathan befürchtete: „Das kann ja heiter werden“, denn am Montag hatten sie eine zweiwöchige Reise ins Landesinnere von China gebucht.

 

Die Reisegruppe bestand aus den drei Deutschen und den, von Darlene Zschech schwärmenden, der Hillsong Church in Sydney angehörenden Gemeindemitgliedern. Sie trafen sich im Schmugglerhaus und mischten viele Bibeln in ihr zahlreiches schweres Gepäck. Vor der Grenzkontrolle an der durch einen Fluss von Hongkong getrennten Millionenstadt Shenzhen vereinzelte sich die Gruppe, so dass nicht alle aufflogen, falls einer mit den Bibeln bei der Kontrolle durch die Scanmaschine entdeckt würde. Alles verlief gut und die Weiterfahrt vom Bahnhof in Shenzhen in den südwestlich gelegenen Teil Chinas konnte starten. Peter hatte den Teilnehmern vor der Zugfahrt eingetrichtert, dass sie nie in der Öffentlichkeit das Wort Bibel oder Jesus aussprechen dürfen, weil sie sonst von den Spitzeln der Geheimpolizei entdeckt würden. Nach 14 Stunden waren sie in einem wunderschönen Tal angekommen. Sie besuchten eine deutsche Missionarin namens Karin Dagmar, deren Namen und genauer Ort aus Sicherheitsgründen verändert wurde. Karin unterhielt ein Waisenhaus und kümmerte sich um die medizinische Versorgung von notleidenden Menschen. Doktor Reinhild hatte ihren obligatorischen Koffer mit viel Zahnbürsten, viel Zahnpasta und zu wenig zahnärztlichen Geräten mitgebracht. Die Kinder des hochgelegenen tropischen Tals versammelten sich, um eine humorvolle Vorführung von Peter über das Zähneputzen zu erhalten. Dann konnte das Gelernte in weißen Schaum umgesetzt werden. Eine kleine notdürftige Praxis wurde in einem der Steinhäuser eingerichtet, in der Reinhild alle Hände voll zu tun hatte. Viele der Kinderzähne waren verfault und mussten gezogen werden. Als Reinhild dachte, endlich zu einer Verschnaufpause zu kommen, meldeten sich die erwachsenen Einwohner. Die Angereisten wurden immer wieder umarmt und erfuhren in ihren Privatquartieren eine noch nie erlebte Gastfreundschaft. Das wenige, das dieser Volksstamm an Essen oder Kleidung zu bieten hatte, wurde an die Besucher weiter geschenkt. Teilweise teilten sich in den Familien vier Leute ein Bett, das jetzt für die Gäste zur Verfügung gestellt wurde. Reinhild und Jonathan lachten, als sie die Landestrachten anzogen, um ein lustiges Bild festzuhalten. Jonathan dachte sich, dass er dieses auf die Vorderseite des Einladungsschreibens zu seiner Hochzeit nimmt. Es wunderte Jonathan nicht, dass auch Peter ein gemeinsames Bild mit der wie ein Fotomodell aussehenden Berufskollegin haben wollte. Dr. Peter Anrich hatte mächtig viel zu tun, da er nicht nur im medizinischen Bereich behilflich war, sondern sämtliche Sprachübersetzungen erledigen musste. Es ergaben sich viele amüsante Schwierigkeiten, wie beispielsweise, als die Australier mit Händen und Füßen versuchten verständlich zu machen, dass sie die Toilette suchten. Es gab in dem Sinn keine Toilette, was als größte Entbehrung von jedem empfunden wurde.

Der einwöchige Aufenthalt ging wie im Flug vorbei, so dass sich die Gruppe zu einem neuen Ziel begab. Der Löwenanteil der mitgeführten Bibeln sollte an einem entlegenen Landwirtschaftsanwesen an chinesische Leiter der Untergrundgemeinde übergeben werden. Den letzten Teil der Reise mussten die sechs Touristen, um kein Aufsehen zu erregen, verborgen im Laderaum eines scheinbar ungefederten Lieferwagens zurücklegen. Aufgrund ihres Aussehens und ihrer Größe, wären sie sonst unter den kleineren Schlitzaugen zu leicht aufgefallen. Peter erzählte, dass er einmal in einem Sarg eines Leichenwagens eingeschlafen wäre, weil er gut getarnt an einen weit entfernten Bestimmungsort gefahren wurde. Dieser wie unter Doping stehender Peter war ein besonders leidenschaftlicher Mann Gottes. Sein Vater Peter-Christoph Anrich war ebenfalls Mediziner und leitete als Professor Doktor die Sportklinik in Freiburg. Der Golf spielende Peter Senior nannte den zunächst auf gleichem Terrain wandelnden Sohn nicht Peter, sondern wie in der Geburtsurkunde stehend Martin. Genau gesagt hieß der feurige Evangelist nämlich Martin Peter Anrich. Er wurde auf einem seiner vielen Transportdienste verhaftet, einen Monat ins Gefängnis gesteckt, registriert und des Landes verwiesen. Daraufhin kehrte Martin Peter an seinen Deutschlandwohnsitz nach Filderstadt zurück und ließ bei einer netten Frau Julia Rüger im Bürgeramt Bernhausen seine Vornamen in seinen Ausweisen umdrehen. Er behauptete in einer Notlüge, bevorzugt mit dem zweiten Namen angesprochen zu werden. Auf den Schlich, seinen Rufnamen zu wechseln und einen neuen Reisepass zu beantragen, war die Geheimpolizei in China noch nicht gekommen. Doch wie bei der Stasi versuchte dieses totalitäre Überwachungsorgan überall die Augen zu haben und seine zahlreichen Spitzel an alle Orte hinzuschicken. Als Jonathan diese Geschichte hörte wurde ihm auf einmal klar woher er Martin Anrich kannte. Das Schicksal führte die beiden in Jonathans schwierigster Lebensphase zusammen. Denn Dr. Martin Anrich hatte ihm nach seiner Reise in die Schweiz, den Tumor erfolgreich aus dem Oberkiefer heraus operiert. Lächelnd bestätigte dies das Schlitzohr Martin Peter, der bescheiden behauptete, dass er gegenüber seiner Berufsgenossin Dr. Scheu nicht damit angeben wollte Oberarzt im Katharinenhospital gewesen zu sein.

 

Im aufstrebenden Arbeiter- und Bauernstaat gab es tatsächlich landwirschaftliche Anwesen mit bettelarmen Leuten, und nicht nur die Jonathan bekannten Reiseschecks wechselnden Millionäre, die es laut Karl Marx eigentlich nicht geben durfte. Es war kein Wunder, dass die Leiter der verbotenen Kirchenbewegungen am Bestimmungsort das reiche westliche Team mit der kostbaren Literatur aufs Herzlichste empfingen. In China gab es ein System, in dem es erlaubt war, in die vom Staat kontrollierte Dreiselbstkirche zu gehen oder eine Bibel käuflich zu erwerben. In der Praxis wurden die Hausgemeinden jedoch bis aufs Blut verfolgt und aus Respektlosigkeit selbst katholische Erzbischöfe wie der Deutsche Märtyrer Cyrillus Jarre inhaftiert und gefoltert. Jonathan lernte durch die Berichte von Martin Peter sehr viel über die Vergangenheit des Reichs der Mitte dazu. Die größte Lektion sollte er am nächsten Morgen bei seinem längsten, sieben Stunden dauernden Gottesdienst, erteilt bekommen. Jonathan begriff nun warum der himmlische Diao so unermüdlich war. Die versammelten Gemeindeleiter beteten das Lamm Gottes auf dem Thron zwei Stunden lang in solcher starken Intensität an, dass auf einmal der Himmel auf Erden zu kommen schien. Die gesamte Versammlung wurde von einem Moment zum nächsten von einer unsichtbaren Kraft umgeworfen. Jonathan lag etwa eine Stunde am Boden und hatte das selbe Traumgesicht wie in England. Auch Reinhild wurde total von der auf ihr ruhenden Kraft überwältigt und geriet in eine Verzückung nach der anderen, bis sie anfing wie eine Gebährende zu stöhnen. An Essen oder Trinken war in diesem Moment überhaupt nicht zu denken. Die Versammlung begann abermals den Herrn zu preisen. Diesmal stimmten sieben Bläser in den Gesang mit ein, die eine Mischung aus einem James Last Orchester und dem WBB Brass Blechbläserensemble vom Württembergischen Brüderbund waren, empfand Jonathan. Er hatte noch nie so eine große Intensität der Begeisterung beim Musizieren und Singen von Kirchenliedern verspürt. Es schien etwas in der Luft zu hängen, das sich entladen musste. Die sieben Trompeter hatten sieben Sängerinnen zur Seite, die sich begannen, mit einem Solo nach dem anderen abzuwechseln. Da die Westler von dem Gesang überhaupt nichts verstanden, übersetzte Peter, dass sie mit ihren Zungen Feuer vom Himmel herab flehen sollten. Die etwa 240 Personen, die sich in der umfunktionierten Scheune versammelt hatten, begannen vor Begeisterung laut zu rufen, so dass Jonathan dachte, er befände sich gerade bei dem Bundesligaspiel zwischen dem VfB Stuttgart und Bayern München bei dem Jürgen Klinsmann gerade sein berühmtes Fallrückzieher-Tor erzielt hat. Martin Peter behauptete in Mandarin und Deutsch, dass er durch seine geistigen Augen sehen könnte, wie Feuerzungen auf die einzelnen Menschen herniederkommen. Die Jesuskinder schrien noch lauter und Jonathan konnte kaum mehr sein eigenes Wort verstehen. Doch etwas hatte sich in der Tonlage der wie betrunken Wirkenden verändert. In der Tat sprach und sang die zwischen Jonathan und Reinhild stehende chinesische Glaubensschwester Mirjam auf einmal in Deutsch. Jonathan konnte jedes Wort verstehen. Sie rezitierte die Anbetungsstellen der Offenbarung von A bis Z durch, und das Ganze wiederholte sich sogar sieben Mal. Diesmal würde Jonathan nicht fragen müssen, ob sie der deutschen Sprache mächtig ist, da sie keiner der Einheimischen beherrschte. Ferner traute er der Frau nicht zu, alles auswendig gelernt zu haben. Beim weiteren Zuhören erinnerte sich Jonathan an eine schöne Fahrt in den Petersdom nach Rom. Pfarrer Benz hatte organisiert, dass seine Schüler eine Zeit ihres Schullandheimaufenthalts in Italien im Vatikan verbringen durften. Jonathan erinnerte sich an die gemeinsamen Rosenkranzgebete in der vatikanischen Basilika. Er hatte in seiner Wohnung ein besonderes Foto hängen, das er vom Dach der Petersbasilika aufgenommen hatte. Der Petersplatz mit seinen ovalen Säulenbögen und des alles dominierenden Obelisken in der Mitte war darauf zu sehen. Anstelle sich von seinen Erinnerungen weiter ablenken zu lassen, versank Jonathan selbst in Trance und gab sich total dem Fluss der Ereignisse hin. Die Zeit verging wie im Flug, denn es waren schon fast sieben Stunden um, als noch Außergewöhnlicheres geschah. Reinhild fing auf einmal an, ohne es zu wollen, auf ihrem rechten Fuß zu hüpfen. Dies geschah mit einem Schwung und einem Tempo, welches die nicht fassen könnenden Umstehenden veranlasste, auf der Stelle Platz zu machen. Scheu sprang wie das Rumpelstilzchen im Kreis herum, und als Jonathan genauer hinschaute erkannte er, dass sie von einer unsichtbaren Kraft gezogen wurde. Genauer betrachtet hüpfte sie nicht im Kreis, sondern es zeichnete sich deutlich ein Herz auf dem staubigen Boden ab. Der Gottesdienst schien sich in ein Kinderseilhüpfen verwandelt zu haben, als Martin Peter auf seinem linken Fuß die selben Bewegungen nacheifern musste und dadurch ein zweites Herz auf dem Sandboden der Scheune entstand. Eine gewisse Eifersucht stellte sich bei Jonathan ein, und er versuchte das ganze nachzuahmen. Er konnte jedoch weder so schnell noch so lange hüpfen wie die zwei anderen. Die chinesische Schwester Mirjam, die ohne zu wissen Deutsch gesprochen hatte, rettete die Situation, indem sie Jonathan von hinten an der Schulter fasste. Jonathan begriff durch ihr Schieben, dass er eine Polonaise anführen sollte. Es bildete sich eine lange Schlange, die auch als chinesischer Drachenumzug gedeutet werden konnte. Das freudige Kettenlaufen wollte kein Ende nehmen und übertraf Jonathans Faschingserlebnisse um Längen. Die sieben Stunden Gottesdienst in China gingen schneller vorbei, als die oft langweiligen fünfundvierzig Minuten zu Hause. Nach diesen Ereignissen beschlossen alle Teilnehmer bis zum nächsten Morgen zu fasten, da sie noch Größeres erwarteten.

 

Ein weiterer für Jonathan unvergesslicher Tag hatte begonnen. Er liebte es, wie zuvor, stundenlang in die Anbetung Gottes zu versinken. Er hatte gehört, dass die transzendental meditierenden Buddhisten wohl ähnlich schöne Erlebnisse durch ihre Ich-Suche nach der Selbsterlösung haben müssten. Als die Trompeter aufgehört hatten zu spielen, und eine Zeit der Stille einkehrte, fing Reinhild, ohne es zu wollen, lauthals zu lachen an. Martin Peter tat es ihr gleich und mit ihnen die ganze Versammlung. Der Einzige, der eine Stunde lang heulen musste und ständig Tränen in den Augen hatte war Jonathan. Er konnte nicht verstehen, warum er sich nicht in das Kollektiv mit einklinken konnte. Doch dann begannen die anderen auch zu heulen, und Martin Peter erklärte, dass die Versammlung nun das Herz Gottes für die Verlorenen bekommen hatte. Ein paar Frauen fingen an, sich wie in Geburtswehen zu krümmen und richteten ihren Oberkörper auf und ab. Jonathan, der wie die meisten auf den Knien war, erinnerte sich an eine Fernsehsendung in der schwarzgekleidete orthodoxe Juden ähnlich wippend beteten. Die Last für unerettete Menschen war von den Fürbittern abgefallen, und der eigentliche Anlass des Tages startete, eine Schulung über Prophetie. Ein altes Tonband nahm die Erläuterungen von Martin Peter auf. Leider konnte Jonathan überhaupt nichts verstehen. Darum hatte der Prophetielehrer Anrich zuvor kurz auf Englisch erklärt, dass er viele Bibelstellen bezüglich Prophetie durchnehmen würde. Anschließend sollte den Anwesenden die Möglichkeit gegeben werden, selbst zu prophezeien. Der Zeitpunkt war gekommen, an dem Martin Peter in ein Schofar-Horn bließ. Die Zuhörer wussten, dass sie beim letzten Ton beginnen durften, ohne zu überlegen etwas loszurufen. Sie sollten einfach ihren Mund aufmachen und anfangen die Worte Gottes zu reden, die der Heilige Geist in ihr Herz und nicht in ihren Verstand gebe. Das Signal kam und Jonathan befolgte den Rat. Ohne zu wissen was er sagen würde, hörte er sich sprechen. „Mein liebes Kind, eine Tür wird für dich zugehen, was dich sehr traurig stimmt, aber sei nicht verzagt, dafür werden sich hundert andere Türen für dich öffnen!“ Jonathan wusste in dem Moment, dass Reinhild damit gemeint sein könnte. Aber dann wäre ihm um ihretwillen lieber die anderen Türen blieben verschlossen. Ein lustiger natürlicher Umstand in der Versammlung war, dass es Vierlinge gab, die gerade aus einem Umerziehungslager hinausgeworfen worden waren, weil dort eine Erweckung unter den Mitgefangenen ausgebrochen war. Bei der Ankunft hatten die vier demütigen Schwestern die Garderobe übernommen, Backwaren und Kaffee dargereicht und zuvor ihre Füße gewaschen. Die wie ein Ei dem anderen gleichenden Jungfrauen waren in der Untergrundkirche für ihre Gabe der Prophetie bekannt. Jahrelang verrichteten sie zuvor treu ihren Dienst in der Provinz Phil Ippi Us (Deutsch: Feuerbach/er). Deborah und Hanna hatten Ihren Stand in Jaci Gibi, Mirjam in Brizli Gibi und Judith in Kafi Gibi. Der Tonbandmitschnitt sollte auch ihre vier Prophezeiungen aufnehmen. Es war bekannt, dass sie unter der Trance Gottes so schnell redeten, dass es selbst mit Steno unmöglich war alles mitzuschreiben. Die Versammelten fürchteten die Schwestern, weil zwar nicht alle, aber bereits viele persönliche Ermutigungen und weltweite Vorhersagen sich erfüllt hatten. Jonathan hatte die Geschäftsidee, die Prophetien eventuell in Deutschland übersetzen zu lassen und einen Handel damit zu treiben. Er hatte sich schon ein gemeinsames Foto mit den Vieren besorgt, dass auf einer CD-Hülle gut aussehen würde. Außerdem würde sich die spektakuläre Sache eventuell sogar als Download im Internet verkaufen lassen.

Dem Technikfreak fiel es nicht leicht die mitgebrachte miniDisc mit „Change the world“ und „The wonder years“ von Michael W. Smith zu löschen. Aber er brauchte den freien Platz für den longplay Modus der Sprachaufnahme. Das Gerät von Sony konnte jetzt sage und schreibe zweihundertvierzig Minuten in guter Qualität aufzeichnen. Er hätte nicht gedacht, dass dies nötig sein würde, denn jede der Vier prophezeite etwa eine Stunde lang ohne Unterbrechung. Die Australischen Landsleute hatten die Versammlung verlassen, weil sie nutzlos für sie war. Sie konnten ja nichts verstehen und hatten außerdem Hunger und Durst bekommen. Reinhild und Jonathan verfolgten das einzigartige unbegreifliche Geschehen trotzdem interessiert weiter und hielten sich an den Händen. Diese Samthände mit der butterweichen Haut wollte Jonathan einfach nicht loslassen, bis Reinhild aufgrund seiner natürlichen Schweißausbrüche höflich darum bat. Martin Peter war während der Prophetien zunächst hoch erfreut und lächelte viel, dann schien er sich große Sorgen zu machen, was ebenfalls an seinem Gesichtsausdruck ablesbar war. Nach der Versammlung war er wie vor den Kopf gestoßen. Er empfahl, den chinesischen Schwestern und Brüdern, den Tonbandabschnitt mit den Weissagungen zu löschen und erst einmal niemand etwas von dem Empfangenen weiter zu erzählen. Sie sollten es im Gedächtnis behalten und prüfen, da auch Stellen über Unheil, dabei gewesen waren und Prophetie zuallererst auferbaut und tröstet und dann erst ermahnt.

 

Die Gruppe legte sich schlafen und freute sich über das ausgiebige Frühstück am nächsten Morgen. Es war spürbar, dass Martin Peter sich unwohl fühlte und deshalb legte er los. Es wäre prophezeit worden, dass sie verhaftet und des Landes verwiesen würden. Er sei sich nicht sicher, ob sie das geplante Zettelsäen durchführen sollen. Sie hatten noch 4000 kleinere „Vom Minus zu Plus“ Evangeliumsprospekte dabei, die sie in einer Großstadt in die Briefkästen der Wolkenkratzer werfen wollten. Die Australier bekamen Angst und baten, vorzeitig mit dem Zug nach Hongkong abreisen zu dürfen. Martin Peter stimmte zu und erinnerte sie daran, nicht öffentlich über den Glauben zu reden. Reinhild sagte, dass sie das Ganze an die Apostelgeschichte erinnert, wo Paulus trotzdem nach Jerusalem ging, obwohl ihm Agabus eine Warnung vor einer Verhaftung gab. Sie fürchte sich nicht vor einer Festnahme und ginge mit. Jonathan hätte sich lieber den Australiern angeschlossen, aber er wollte Reinhild nicht nochmal mit Martin Peter alleine lassen. Außerdem würde er wie in Albanien für immer ihr Beschützer bleiben. In diesem Moment ereignete sich ein nie dagewesenes Zeichen. Einer der Brüder kam angesprungen und hatte ein merkwürdiges Problem. Er nannte sich Da Sju und konnte sich nach dem Erwachen nicht mehr richtig bewegen. Seine Arme waren in der Art gestreckt, wie es in einer düsteren Zeit zur Ehre eines okkulten deutschen Führers als Begrüßungzeichen üblich war. Jonathan musste trotzdem lachen, da beide Zeigefinger und beide Mittelfinger krümmlich gebogen waren und aussahen wie die Ohren von Osterhasen. Er war am Ostersonntag geboren und liebte die Teighasen, die seine Mutter Anna an diesem hohen Feiertag der Auferstehung Jesu Christi zum Kaffee vorzusetzen pflegte. Die beiden deutschen Doktoren untersuchten den Patienten und brachen ihm dabei schier die Knochen. Seine Oberarme blieben trotzdem steif wie bei einem Toten. Martin Peter versuchte nicht mehr länger, die Arme von Da Sju nach unten zu beugen, sondern fing an zu beten. In diesem Moment drehten sich die Hände um 180 Grad und veränderten die gekrümmten Zeigefinger und die kleinen Finger von Da nach oben, wobei sich der Daumen, der Mittelfinger und der Ringfinger in der Mitte berührten. Etwas Furchterregendes ereignete sich, denn Bruder Sju fing an seinen Nachnamen immer wieder zischend, wie eine Schlange auszusprechen: „SjuSjuSjuSjuSjuSju“. Martin Peter sagte es handele sich um eine dämonische Belastung und rief weitere Geschwister herbei, die lautstark mit beteten. Der deutsche Teufelsaustreiber befahl Dämonen auszufahren, während Jonathan begriff, dass er nun mitten in einem Exorzismus gelandet war. Eine Stunde lang schien nichts zu helfen. Dann bekam Hanna, eine der Vierlinge, ein sogenanntes Wort der Erkenntnis und sagte, man solle das Reisegepäck von Da Sju untersuchen. Darin befände sich ein dämonisches Buch, das für alles verantwortlich wäre. Sie durchsuchten den Rucksack und entleerten eine Bibel. Toll, dachte sich Jonathan, in dem Buch der Bücher wird zwar viel von Dämonen berichtet, aber das ist doch nicht das okkulte sechste bzw. siebte Buch Mose. Die Schwester Mirjam gab nicht auf und entdeckte ein Geheimfach im Futter des Rucksacks. Darin befand sich ein winziges Büchlein mit viel klein gekritzelten chinesischen Schriftzeichen. Die Schwester Judith zerriss das Notizbuch, und die Schwester Deborah verbrannte es in einem Ofen, der aussah wie eine Tonne. Augenblicklich senkten sich die Arme des Gequälten, und er fing an bitterlich zu weinen, wie es Erwin in Ramsgate getan hatte. Es schien allen klar zu sein, was passiert war, außer Reinhild und Jonathan. Martin Peter erklärte ihnen mit einem Lächeln auf den Lippen, dass das Notizbüchlein die Namen sämtlicher anwesender Leiter enthielt, und Bruder Da Sju sich als Spion der chinesischen Geheimpolizei bekannt hatte. Das fand Jonathan obercool, nach dieser Enttarnung und Buße hatte die Untergrundbewegung einen Doppelagenten erhalten. Von da an wurde Da Sju mit seinem wahren Namen Fili Ilfi gerufen.

 

Nach einer mehrstündigen Fahrt mit dem Zug kamen die Deutschen in einer bekannten Großstadt im Süden Chinas an und buchten ein Quartier in einem Plattenbauhotel. Die Zimmer muffelten nach Alkohol und Rauch und hatten nur eine Etagendusche. Sie übernachteten im vierzehnten Stock und stellten den Wecker auf vier Uhr morgens. Die Mission der Prospektzustellung war wesentlich schneller erfüllt als in Hongkong. Dafür war sie auch umso gefährlicher. Hongkong war noch in britischer Hand, und es herrschte Religionsfreiheit, an der sich später jedoch auch nichts Negatives ändern sollte. Das kommunistische Regime in China wollte die Macht von Propaganda mit jedem Mittel verhindern, was sie mit der blutigen Zerschlagung der Demokratie- und Studentenbewegung in Peking bewies. Tausende Seiten umfassende Bibeln einzuführen war nicht so verhasst, wie die Gesellschaft durchdringenden, besser verständlichen kleinen Broschüren. Die Mission war äußerst erfolgreich. Der sechs Uhr Zug war nach Shenzhen pünktlich abgefahren, und wenn man davon absieht, dass der smarte Ex-Oberarzt Dr. Martin Peter im Abteil Reinhilds leuchtende Augen und perfektes Gebiss unverschämt lange fixiert und gemustert hatte, indem er sie in zahnmedizinische Fachgespräche und Untersuchungen verwickelte, war bei Jonathan alles in bester Zufriedenheit.

Dies änderte sich leider beim geplanten Grenzübertritt in Shenzhen. Sie wurden festgenommen und von einer uniformierten Frau, die Drachenlady genannt wurde, in ein Klassenzimmer geführt. Die chinesische Militär-Prinzessin Li Si hatte schon einige Bibel-Schmuggler durch den Scanapparat und ihre alles durchdringenden Augen überführt. Doch bei dieser Kontrolle zurück nach Hongkong wurde lediglich Reinhilds Arztkoffer mit den zahlreichen Zangen entdeckt und inspiziert. Die Schmuggler hatten sich ja von jeglichem belasteten Beweismaterial ihrer ursprünglich schweren Papierladung entledigt. Sie wurden in einen Raum geführt, in dem die drei Aussies wie Äffchen angebunden auf ihren Stühlen saßen. Der eine hatte einen Verband um die Augen, der nächste um die Ohren und der Dritte um den Mund. Wie hatten sie sich das eingebrockt? Die Australier saßen auf ihrer Rückfahrt zu viert in einem Abteil mit einem unmündigen chinesischen Seefahrer, der eine große Zahnlücke und breites Grinsen wie der amerikanische Bischof T.D. Jakes hatte. Er verstand kein Wort von dem was sie sagten, dachten sie zumindest. Sie wurden vom Gegenteil überführt, als dieser sie in Shenzhen der Geheimpolizei übergab und erklärte, dass es in Hongkong, sich von Ehefrauen loslösende Piraten gäbe, die durchaus Englisch verstehen, um sich ein Fass voll Rum für die Besatzung zu verdienen. „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern, keine Angst, keine Angst, …“, war das Abschiedslied des abtauchenden U-Boot Kapitäns.

 

Die nur chinesisch sprechende Drachenlady mit dem Decknamen Rosmarie hatte sich zwei rot gekleidete Gelbsternchen-Gehilfen, die wie Shaolinmönche aussahen, als Dolmetscher zur Seite gestellt. Die drei Neuankömmlinge durften sich in einer großen Schüssel das Gesicht und die Hände waschen. Der singende Bruce Chan bot Handtücher an, und Chackie Lee nahm sie, auf einem Tablett tanzend wieder ab. (Verzeihung, die Künstler haben Probleme mit der Zeichensetzung). Jonathan empfand die Atmosphäre als ziemlich locker. Gerne versicherte er gegenüber den Verhörern, dass sich keine Spionagedaten von Militärkasernen auf den silbernen Mini-CDs befinden und gab eine Hörprobe des Lieds: „Sei mutig und stark und fürchte dich nicht.“ Die geliebte Reinhild wurde gefragt, ob sie mit ihren Zangen in China als Frauenärztin Abtreibungen durchgeführt hat und durch ein Ultraschallgerät das Geschlecht von Embryos erkennen kann. Die Befragte erläuterte unverblümt auf Englisch, was für eine wunderbare Zahn-Pasta-Zähne-Heraus-Reis-Hilfs-Aktion sie mit ihren zuvor durchleuchteten Instrumenten und anderen Mitbringsel durchgeführt hatte. An den Namen des Bergortes konnte sich keiner der Deutschen erinnern, den hatten sowieso die Australier schon ausgeplaudert. Wo der daraufhin besuchte Bauernhof genau lag, wusste sowieso niemand genau zu sagen, außer dem sprachlosen Martin Peter, der sich davor hütete überhaupt etwas zu äußern. Die eine Zigarette rauchende, das Verhör anleitende Parteigenossin wurde ungeduldig und ungemütlich. Sie nahm den Reisepass, in dem Peter Martin Anrich stand und entzündete diesen mit ihrem Feuerzeug im Aschenbecher. Trotz giftiger Umweltbelastung schien den energiehungrigen Chinesen, das wärmende, schmorende Feuer Genugtuung zu bereiten. Anstelle Jesu ei ni in richtiger Tonlage auszusprechen, sagte Jonathan aus Versehen zu den Spitzeln, dass sie Schweine wären, die geschlachtet werden müssen. Martin Peter gab seine Chinese Wall auf und ergänzte perfekt in Mandarin, die wilde Nymphomanin solle mit den geilen Mönchen dreizehn mal unter Deck gehen, um Buben, anstelle einer zahmen Prinzessin, durch ihre geheimen, gemeinsamen Unterleibsunterborduntersuchungen ans Tageslicht zu befördern. Dass schlug dem Fass den Boden aus bzw. setzte dem Ganzen die Krone auf. Ausschlaggebend waren nicht nur die spöttischen Bemerkungen, sondern der die Landessprache beherrschende und enttarnte Martin Peter, der zuvor schweigend jedes Wort der gegnerischen Unterredungen mitgehört hatte. Für einen Konfuzianer gibt es nichts Schlimmeres, als sein Gesicht zu verlieren. Deshalb tunkte der enttarnte, schwangere, taoistische Golddrache den mit Handschellen gefesselten Arzt in die Messing-Wasserschüssel und verabreichte gleichzeitig dem zur Hilfe eilenden Jonathan mit einem Todeskralle-Zeigestab einen Elektroschock an seinem Kopf. Reinhild, die dachte, dass ihr Berufsgenosse nun durch Ertrinken umgebracht wird und ihr Liebster um den Verstand gebracht wird, fing an Herz zerreißend zu weinen und stoppte damit den Frevel. Sie erzählte großen Eindruck schindend etwas von UNO-Menschenrechten und von der Genfer Konvention, womit himmlischer Frieden am Platz einkehrte. Bruder Lee verordnete der Äbtissin eine Beruhigungspille, da sie einen Anfall von Atemnot und Schüttelkrämpfen bekam, den Bruder Chan in einer Ausrede als wilden fehlgeschlagenen Kung Fu Stunt bezeichnete. Das Ende vom Lied war, dass den Eindringlingen lediglich die Visa entzogen wurden und die Passnummern registriert wurden, damit sie so leicht nicht mehr ein neue Einreisegenehmigung bekommen. Somit verlief die ganze Angelegenheit einigermaßen glimpflich. Jonathan freute sich sogar ein wenig darüber. Nun konnte er in der Heimat damit angeben, von der Chinesischen Geheimpolizei verhaftet und gefoltert worden zu sein.

 

Schon am Abend zerstreute sich das internationale Team wieder bei einem mit Flutlicht beleuchteten Volleyballspiel im Freien mit der von Martin Peter unterstützten Gemeindejugend in Fan Lin. Die Beachvolleyballer aus Sydney konnten ihrem Frust ein Tag eingesperrt gewesen zu sein vollen Lauf lassen, indem sie das Spiel klar dominierten. Dass der sportliche Anrich dabei gleich dreimal den Ball voll ins Gesicht geschmettert bekam, war sicher keine Absicht. Zur Wiedergutmachung und als Revanche mussten die vier ausländischen Mitbewohner am Abend je einen Bibelvers auswendig lernen. Martin Peter hatte einen riesigen Karteikasten mit kleinen Kärtchen auf denen chinesische Schriftzeichen gemalt waren, die er so besser auswendig lernen konnte. Auf der Rückseite dieser Memory-Karten, waren von ihm ausgewählte englische Bibelverse geschrieben worden.

Jonathan war nicht gerade glücklich über seinen Spruch „Wecke die Liebe nicht auf, bevor es ihr nicht selbst gefällt“, und die in zwei Tagen abreisenden Australier fühlten sich durch die erhaltenen nichts sehen, hören und sprechen Ratschläge ebenfalls vor den Kopf gestoßen.

 

Die letzte Ferienwoche war angebrochen, und ein verdienter Erholungsurlaub in Hongkong konnte von den Schmuggler Gottes verbracht werden. Das Liebespaar besuchte mit der Zahnradbahn den Victoria Peak und fotografierte den atemberaubenden Blick auf die Skyline des Central Districts. Jonathan interessierte sich besonders für den Bank of China Tower und das HSBC-Gebäude, das durch seine Legobauweise theoretisch, bei einer befürchteten kommunistischen Diktatur, nach Taiwan oder Japan verschifft werden konnte. Reinhild klärte ihren Zukünftigen darüber auf, dass die acht Trigramme, die Fünf-Elemente-Lehre und die besser bekannte Ying-und-Yang-Lehre mit dem Christentum unvereinbar wären, und deshalb die unbezahlbaren Architekturikonen keine Bewunderung in ihr hervorrufen. Hongkong ist ein riesiges Einkaufsparadies mit einem Ladenzentrum neben dem anderen, welche die Besucher förmlich zum Shoppen verleiten und süchtig machen. Die pietistisch angehauchte Reinhild bevorzugte Kopftücher und Röcke aus dem Ladies Market in Mong Kok, und Jonathan besorgte sich Seidenhemden und Krawatten im Temple Street Night Market in Kowloon. Schwer bepackt kamen die beiden Umarmenden spät nachts in ihre Quartiere zurück. In Jonathans Zimmer musste wegen Überfüllung der Notstand ausgerufen werden, denn seine Kollegen vom fünften Kontinent, hatten es ihm gleich getan und ängstigten sich beim Koffer packen davor, für das Übergepäck von der Quantas Airline und dem heimischen Zoll kräftig zur Kasse gebeten zu werden.

Am nächsten Morgen machten sich die Bibelschmuggler zum letzten Mal auf die gemeinsame Reise mit dem Vorortzug ins Stadtzentrum von Hongkong. Die lieb gewonnen Aussies wurden am Flughafen auf die Schulter klopfend verabschiedet, Martin Peter wollte sich bei dem Deutschen Generalkonsulat ein neues Reisedokument besorgen und das verbleibende Duo hatte ein Ehevorbereitungsgespräch bei Andrew Taylor vereinbart. Das Glasbüro von Bruder Andrew befand sich in einem der zahlreichen Hochhäuser, die größtenteils nach dem Feng Shui Prinzip gebaut wurden. Jonathan hatte sich noch nie in einem ordentlicheren Aufenthaltsraum befunden. An einer Wand waren fein säuberlich die Bilder von Andrews Mitarbeitern gehängt, für die er gerade auf einer Bambusmatte kniend betete. Er lud die Gäste ein, für Martin Peter mit in die Fürbitte zu gehen, damit dieser durch ein Wunder eine weitere Aufenthaltsgenehmigung und einen Pass von den ortsansässigen Behörden bekommt. Danach setzten sie sich an einen Konferenztisch und berichteten dem erstaunten Taylor, von ihren China Inland Missions-Erlebnissen, sowie von ihrem Albanieneinsatz, bei dem sie sich kennen gelernt haben. Andrew wollte von dem an sich anschmiegenden Paar wissen, ob sie sich hundert Prozent gegenseitig annehmen können, wie sie sind, was Reinhild nur zögerlich bejahte. Sie bekannte ein äußerliches Problem, dass sie mit Jonathans vier fehlenden Zähnen und seiner nicht ganz so ästhetischen Brücke hatte, aber als nicht wirklich schlimm empfand. Jonathan, der in einer anderen Sache ein schlechtes Gewissen bekam, lenkte sein Gespräch auf seinen miniDisc Player. Er fragte, ob er die Aufnahmen der Prophetinnen veröffentlichen und verkaufen dürfte und begann sie über den Kopfhörer abzuspielen. Der ältere Bruder Andrew war von der Technik des winzigen Rekorders begeistert und wollte die kompletten vier Stunden abhören. Normalerweise saß er stundenlang vor seinem PC und beantwortete die Emails der ausländischen Besucher, die als Esel für Jesus kommen wollten. Doch nun setzte er sich in seinen Ledersessel und trug eifrig, die für ihn wichtigen chinesischen Vorhersagen, in ein Notizbuch ein. Um die Gäste nicht zu langweilen, gab er ihnen eine Visitenkarte von einem Freund, der in der Nähe ein interessantes Geschäft betrieb. Als Jonathan und Reinhild in der Schneiderei ankamen, waren sie von der Idee sehr angetan, sich einen Maßanzug und ein Kostüm anfertigen zu lassen. Der bekannte schnelllebige Rhythmus der Großstadt garantierte die Abholung innerhalb 24 Stunden.

Zurück in Andrews Büro, trafen sie den frustrierten Martin Peter an, der wegen seines zerstörten Passes nach Deutschland zurückkehren musste und seine Arbeit als Chinahilfsmitarbeiter nicht mehr so schnell ausüben konnte. Der reumütige Jonathan entschuldigte sich bei seinem Fremdenführer für den heimlich angefertigte Mitschnitt und wollte diesen löschen. Statt dessen schlugen Andrew und Martin Peter vor, die göttlich inspirierten Weissagungen zum richtigen Zeitpunkt unentgeltlich zu veröffentlichen, um keinesfalls, wie viele Wohlstand verkündigende Tele-Evangelisten, einen eigennützigen, egomanischen Handel mit Gottes Wort zu treiben. Nun wollte die emanzipierte Reinhild eine Kostprobe ihrer Glaubensgeschwister erhalten und bettelte so lange, bis ihr Andrew eine Story vorlas. Martin Peter hätte in der Scheune von Deborah den Zukunft weisenden Ratschlag bekommen, seinen erlernten Beruf in seiner Heimat wieder auszuüben und in der Freizeit, für das Reich Gottes, als ehrenamtlicher Mitarbeiter zu wirken. Außerdem würde er zuhause eine wunderhübsche, besser zu ihm passende, deutsche Berufskollegin, und nicht eine der vier bewunderten, schlitzäugigen Prophetinnen heiraten. „Das wird die Zeit dann ganz bestimmt bald zeigen“, schmunzelte der sich von Andrew verabschiedende Jonathan.

 

Auf dem Nachhauseweg gingen die drei deutschen Gute Nachricht Verehrer an der Uferpromenade von Kowloon vorbei und wurden von zwei Englisch sprechenden, schwarzen Anzugträgern mit weißen Hemden gefragt, ob sie die goldenen Platten des Joseph Smith kennen. Ein halbstündiges Gespräch war die Folge, in der Martin Peter die missionierenden jungen US-Amerikaner überzeugen wollte, dass das Buch Mormon nicht von Engeln, sondern von Dämonen inspiriert wurde, und der einem Geheimbund angehörige Schreiber und Jupiter-Talismann-Träger gerade deshalb ein böses Ende genommen hat. Ein paar Schritte weiter trafen sie auf zwei philippinische Gastarbeiterinnen, die aus der katholischen Kirche ausgetreten waren, um nun eifrig den Watchtower – Wachtturm – zu verteilen. Diesmal klinkte sich die gleichgeschlechtliche Reinhild, ihre Glaubensüberzeugungen heftigst weitergebend, mit in das Gespräch ein, indem sie Bibelstellen über Jesus Christus, der sowohl Mensch als auch Gott sei, zitierte. Sie versuchte dadurch zu beweisen, das die Neue-Welt-Übersetzung die Bibel verfälscht habe. Jonathan wusste von Haustürgeprächen mit den ihm nicht unsympathischen Zeugen Jehovas, dass diese Diskussionen stundenlang andauern können, weil indoktrinierte Menschen selbst Ausreden für falsch verkündigte Weltuntergänge finden. Deshalb besorgte sich der Genießer von einem Straßenverkäufer ein Bananen-Softeis und balancierte, das Streitgespräch beobachtend, auf der Ufermauer. Wenn er wollte könnte er bei der nächsten Bank-Chorprobe im Raum der Stille mit seinem verehrten Direktor und Glaubens-Papst Adolfo Massonico ein weiteres Wachtturm-Granit-Tempel-Bank-Mitarbeiter-Gespräch führen, oder besser mit seiner liebenswürdigen, dirigierenden Frau Anne-Sophie über deren Adelsabstammung sinnieren. Die in Karlsruhe gebürtige Mormonin und Wagner Verehrerin hatte passend dazu herausgefunden, dass sie von Karl dem Großen und Ludwig II. abstammt, und ihr Göttergatte Adolfo zu den französischen Sonnenkönigen und spanischen Nicolaiten zählt. Jonathan balancierte gerade über einen Teil der chinesischen Mauer, in den, wie bei einer Brücke, ein Loch zum besseren Geisterdurchschritt, freigelassen war. „Autsch, so ein Pech!“, der Kunstturner, der seinen Gedanken freien Spießrutenlauf ließ, hatte nicht aufgepasst, fiel auf seinen Allerwertesten und verrenkte sich die Hüfte. Dies sorgte bei den Umstehenden für den Abbruch der trennenden Anfeindungen, denn nun erkundigten sich alle Religionskämpfer bemitleidend nach seinem Befinden.

 

Der auf Brautschau befindliche Jonathan fühlte sich in der Nacht äußerst ungemütlich auf seinem Bett und konnte zunächst nicht einschlafen. Die Worte von Lester Murdock kamen ihm wieder in Erinnerung, er solle nicht traurig sein, weil eine Freundschaft in die Brüche geht, denn die Frau wäre für seinen Freund vorgesehen. Dann wiederholte sich in seinem Verstand die Verheißung: „Eine Tür geht für dich zu, aber dafür öffnen sich hundert andere!“ Endlich eingeschlafen träumte er von einer Himmelsleiter, die in ein leuchtendes, herrliches Schloss mit unzähligen Türen führte, durch die ihn zwei fliegende Engel, auf ihren Händen tragend, schnell hindurch führten. In jedem Raum befanden sich die schönsten und wunderbarsten Geschenke, doch leider blieb keine Zeit zum Verweilen. Enttäuscht auf dem harten Boden der Tatsachen wieder angekommen hörte er die väterlichen Worte: „Was kein Auge gesehen hat und in keines Menschen Sinn gekommen ist, habe ich für meine geliebten Kinder bereitet.“

 

Die Hüftschmerzen hatten sich vergrößert. Jonathan wollte am nächsten Morgen nicht wie geplant in eine Sportarena zum Wunder-Gottesdienst mitgehen. Martin Peter bestürmte ihn trotzdem mitzukommen, weil ein berühmter Heilungsevangelist mit seinem Privatjet eingeflogen kam, der unbedingt für seine Gesundung beten sollte. Die Musik und die Predigt waren so laut, dass Jonathan, der Tempo Taschentücher in seine Ohren stopfte, bevorzugte, das Pfeifen aus seinem Gehirn weggepustet zu bekommen. Der Vollmächtige Flewy Hinn predigte gekonnt und blies zahlreiche Besucher auf der Bühne in ihr Gesicht oder schwenkte mit seinen Armen, so dass sie rückwärts umfielen und sich im Geist erschlagen ausruhten. Die Krönung war, als die in der vernebelten „Kannst mir den Schleier von den Augen nehmen“ Halle stehenden Zuschauer sich an den Händen fassen sollten und durch laute gewaltige „Bam, Fire, Power“ Schreie in ihre Sitze zurückgeschleudert wurden. Der Patient, der weder schmerzfrei sitzen, noch stehen konnte, wurde von seiner besseren Hälfte Reinhild zur Rechten und Martin Peter zur Linken am Arm gefasst, und ohne es zu wollen mit umgeschmissen. „Ihr seid aber zwei tolle Ärzte, ihr sollt mich doch gesund machen und nicht umbringen!“, beklagte sich Jonathan, der anschließend in ein Krankenhaus zum Röntgen gebracht wurde, um zu erfahren, dass er sich einen Beckenbruch, wo auch immer eingehandelt hatte. Die stationäre Einlieferung war unumgänglich. Jonathan rief die Hauptverwaltung der SDK-Krankenversicherung in Fellbach an und bekam ein erste Klasse Ticket für den Lufthansa Direktflug nach Frankfurt gestellt. In gewohnter Umgebung im Paracelsus-Krankenhaus Ruit war eine Operation angebrachter.

Patient zu sein hat auch seine Vorteile, denn nun packten Martin Peter und Reinhild seine Sachen und lieferten ihn am Kai Tak Flughafen ab. Jonathan ließ vor seinem Rückflug sein anderes Flugticket am China Airlines Schalter auf Martin Peter umschreiben. Weinend vor Schmerzen oder wegen der Trennung, wünschte der verwundete Liebhaber dem zurückbleibenden Paar alles Gute. „Ich glaube ihr zwei seid von Gott füreinander bestimmt“, waren seine Abschiedsworte.

 

Jonathan hatte noch nie so große Schmerzen aushalten müssen, wie in seinem 11.000 Meter hohen, zum Bett umfunktionierten Schlafsessel, in dem er auf dem Bauch lag. Er versuchte die gnadenlose Stiche in seinem Hintern, durch den kostenlos dargereichten Champagner und durch einen ablenkenden Videofilm zu betäuben. Die erfolgreiche Liebes-Parodie „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ war zum Schreien komisch und passte zu seiner Situation. Denn in seiner Fiktion bildeten sich ebenfalls drei Hochzeitspaare mit Helen & Otto, Vera & David, Reinhild & Martin Peter und dem vierten Paar mit dem Storyhelden Jonathan & ?. Phoebe, die zuvor kommende griechische Stewardess, hatte den mutigen Eindruck vom Himmel, ihn mit einem Bibelspruch aufmuntern zu sollen, obwohl sie gar nicht wusste, dass er gläubig ist. Im Römerbrief Kapitel 8 würde stehen, dass alle Dinge denen zum Besten dienen, die Gott lieb haben. Das vom unsichtbaren Vater, und nicht von den erwünschten Jungfrauen, geliebte Kind Jonathan erwiderte, dass er sich wie die mit feinfühligstem britischen Humor zu Grabe getragene Leiche vor kommt, die von Mister Bean oder einem anderen schwulen Pfarrer mit dem Poema: „Lasst die Flieger kreisend, Trauer sei das Gebot, an den Himmel schreiben, er ist tot“, am Flugzeug-Bildschirm verabschiedend bestattet wurde. In Frankfurt angekommen schob die schwarzgelockte, Traummaße aufweisende Hostess Phoebe den lieb gewonnen Patienten mit dem Rollstuhl zum Johanniter Wagen, der ihn zum Ruiter Operationstisch beförderte. Die bibelfeste/griechisch Orthodoxe gab ihm um 12 Uhr eine letzte aufbauende Mitteilung des Römerbriefs mit auf den Weg: „Ich ermahne euch nun Brüder, durch die Erbarmungen Gottes, eure Leiber darzustellen als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Schlachtopfer, welches euer vernünftiger Dienst ist.“

 

Um die weiblichen Groschenroman-Leser (die Lebensfiktion von Jonathan Fischer darf kostenlos für den privaten Gebrauch ausgedruckt werden), nicht zu enttäuschen und wie bei der Lindenstraße Woche für Woche hinzuhalten, sei verraten: Es gibt eine vierte Hochzeit und der schnell wiedergenesene Jonathan ist nicht mehr zu haben, weil er in den nächsten drei Kapiteln unter die Haube gebracht wird.