Die Reise in die Schweiz
Der graue Alltag kehrte wieder im Leben von Jonathan Fischer ein. Er ging wieder seinen gewohnten Beschäftigungen nach, die hauptsächlich durch sein Tätigkeitsfeld als Kundenberater in seiner Volksbank bestimmt wurden. Sein Freundeskreis im Münchner Schachclub interessierte sich überhaupt nicht für seine Erlebnisse. Ja, sie hielten ihn für einen Spinner und Träumer, der zum hirnlosen Opfer einer der amerikanischen Sekten geworden ist. Dummerweise kam eine Serie von Niederlagen in der Schachbundesliga hinzu, was den kritischen Teammanager veranlasste, ihn eine Zeit lang gegen einen Ersatzspieler auszutauschen. Verständlicherweise wollte auch seine Familie die entfachte Glaubensbegeisterung nicht teilen. Die Eltern waren der Meinung, wenn man einmal katholisch getauft ist, muss man auch immer katholisch bleiben. Sein Bruder Thomas griff ihn scharf an, weil er selbst eine seiner Meinung nach verrückte und fanatische Vorgesetzte hatte, die ihn schon des öfteren versuchte zu bekehren. Umso ärgerlicher wurde er, als er erfuhr, dass diese Vera Fischer sich mit seinem kleinen Bruder bekannt gemacht hatte und mit ihm betete. Vera stellte ihre Wohnung im Sommer dem Sportler für Jesus Team zur Verfügung und war bei den christlichen WM-Treffen dabei. So wurde Jonathan von seiner engen Verwandtschaft prophezeit, dass seine Begeisterung sich schnell wieder legen würde. In gewisser Weise sollten sie Recht bekommen.
Weihnachten stand vor der Tür und die Möglichkeit eines phantastischen Winterurlaubs eröffnete sich für Jonathan. Er erhielt eine Einladung in ein Nobelhotel in St. Moritz, die er seiner besten je erzielten Schachleistung zu verdanken hatte. Im Vorjahr triumphierte er bei einem mit zehn internationalen Jungtalenten besetzten Turnier in Lenk im Berner Oberland. Er gewann sieben Mal und spielte zwei Mal unentschieden, was der Leistung eines Supergroßmeisters entsprach. Ein jährliches von dem Schweizer Verband der Raiffeisenbanken gesponsertes Grand-Prix-Turnier, wurde in dem Oberengadiner Kurort, der vom Jetset überaus geschätzt wurde, ausgetragen. Die einzige Hürde, die es zu überwinden gab, war eine zum Jahreswechsel geltende Urlaubssperre für alle Bankbediensteten. Jonathan wusste, dass sein von klassischer Musik faszinierter Bankdirektor Adolfo, sich immer selbst über sein Ferienverbot hinweg setzte, um vor Sylvester zum Märchenschloss Neuschwanstein zu pilgern. Dort fand alljährlich im Sängersaal ein Wagner-Festival statt, bei dem seine begnadete Frau und sechsfache Mutter, Anne-Sophie dirigierte. Einer der erfolgreichsten Bankvorstände Deutschlands, der nicht nur Liebhaber der höheren Künste, sondern auch sein Förderer war, ließ ihn natürlich nicht im Stich.
Jonathan wurde von einer befreundeten Familie aus Kecskemet in Ungarn gebeten, ein vierzehnjähriges Wunderkind mit in die Schweiz zu begleiten. Der hagere Jugendweltmeister Peter Polgar galt nicht nur als aussichtsreichster Kandidat auf die Königskrone, sondern spielte auch ausgezeichnet Fußball in seinem Armeeverein. Jonathan hatte beim Frühlingsfestival in Budapest sogar erlebt, wie es eine Schlägerei unter geldgierigen Schachtrainern gab, wer den Wunderknaben unterrichten darf. Der neue ungarische Nationalcoach und Großmeister Dr. Tamas Bozi, war ein Freund der Familie Fischer und übernachtete gelegentlich bei seinen Europa-Touren in Stuttgart. Jonathan besorgte einen gebrauchten Personalcomputer für das zunächst im Fasanenhof beherbergte Duo und installierte eine umfangreiche Schachdatenbank namens ChessBase darauf. Die Koffer, der PC und die eigene alpine Skiausrüstung wurden ins Auto gepackt, um sich zu dritt nach St. Moritz zu begeben. Jonathan diskutierte mit Tamas auf der Schnellstraße Richtung Schaffhausen, ob er zukünftig nicht die Geldanlagen des aufstrebenden Spitzenverdieners Peter managen könnte. Deshalb machte beim Grenzübertritt der promovierte Rechtsanwalt Dr. Bozi in gebrochenem Deutsch die scherzhafte Bemerkung, dass er ein Nummernkonto für sein Mündel Peter in der Schweiz eröffnen möchte. Die humorlosen Fahnder zerlegten daraufhin auf der Suche nach Bargeld nicht nur zwei Stunden lang den Opel Kadett in seine Einzelteile, sondern versuchten auch mit allen möglichen Entschlüsselungstricks die vermeintlichen Bank-Zahlendaten auf der Computerfestplatte auszuspionieren. Die drei Verdächtigen vertrieben sich währenddessen die Zeit in einem Warteraum mit einem gegenseitigen Blind-Simultanturnier. Jeder spielte gleichzeitig gegen jeden, wobei kein Schachbrett zur Hilfe genommen wurde, sondern die Züge im Kopf behalten und weitergesagt wurden. Jonathan war zufrieden darüber, seine beide Gedächtnis-Partien gewonnen zu haben und deutete dies als gutes Omen. Noch glücklicher waren alle drei Denksportler, als ein Dienst ablösender Grenzer sich als echter Experte und Schachfreund entpuppte und die Reise fortgesetzt werden konnte.
Mit reichlicher Verspätung an der Rezeption des Grand Palace Hotels im verschneiten Engadin angekommen, wurde der PC und Bildschirm abermals zerlegt. Geheimdienstmitarbeiter befürchteten, dass sich darin eine Bombe befinden könnte. Warum dieser Aufwand? Das weltberühmte Domizil wurde in der Weihnachtszeit als Austragungsort einer Konferenz über eine „Neue Weltordnung“ von Regierungschefs und Wirtschaftsbossen gebucht und war deshalb strengstens überwacht. Die drei Neuankömmlinge bekamen endlich ihre Zimmerschlüssel und einen Strichcode-Scanausweis, um sich besser bewegen zu können, bis sie sich erschöpft auf ihre Overnightapartments begeben konnten.
Am nächsten Morgen kehrte Fortuna in Jonathans Leben zurück. Beim von einer Harfenistin begleiteten Frühstück in der Grand Hall der Nobelherberge setzten sich zwei weltberühmte Business-Women an seinen Tisch. Die reiferen, gleichaltrigen Blondinen unterhielten sich auf Englisch über ihre Marketing- und Verkaufsstrategien. Sie brüsteten sich mit ihren Double-Investments in Silicon Hills, die ihnen zu famosem Reichtum und Wohlstand verholfen hatten. Der gläubige Christ und Banker geriet in einen Gewissenskonflikt und ins Nachdenken. War es ein Zufall, dass er beide in der Nacht, bei von der Kirche verbotenen Szenen, im Fernsehen gesehen hatte? Madonna! Die eine setzte sich auf MTV mit ihrem Hit „Like a Prayer“ wie üblich schockierend in Szene, und die einem menschlich erbebenden, tödlichen Karma erliegende Sharon, zeigte sich in „Basic Instinct“ bei einem Teufelsritt von ihrer besten, nackten Seite.
Als Jonathan mit der Gondel in die schneebedeckten Graubündner Berge herauf schwebte, schimmerten die weißen Türme des auf einem Hügel befindlichen Märchenhotels in rötlichem Sonnenlicht. Beim Verlassen des Transportmittels verhakten sich seine Skistöcke mit denen des jugendlichen, angelsächsischen Thronfolgers, was er nicht fassen konnte. Untertänigst hob er beim Verlassen des Skilifts das weggeworfene Stofftaschentuch des Rotzlöffels auf und stieß bei der versuchten Rückgabe auf Unverständnis bei dessen abschirmenden Leibwächtern. Der verärgerte Jonathan steckte das klebrige Souvenir ein und überflügelte die Adelsfamilie forsch, indem er gekonnt mit seinen Fischer Slalom Skis die schwarzen Pisten ins Tal hinunter wedelte. Jonathan konnte diesen Tag gelassen angehen, da er die Erstrundenpartie am Nachmittag gegen seinen Kumpanen Tamas Bozi zur schnellen lustlosen Remispartie im voraus vereinbart hatte. Im Anschluss daran erteilte Jonathan seinem Komplicen Skiunterricht an einem Anfängerlift und amüsierte sich über dessen zahlreiche Stürze in den Schnee.
Das nächste morgendliche Buffet hatte zwei steife Opernsänger zu bieten, die die Gäste musikalisch begrüßten. Die Vorsänger Tamino und Papageno wurden von einem Streichorchester harmonisch untermalt. Diesmal gesellte Jonathan sich an einen Tisch mit zwei männlichen Geschäftsleuten, die sich ihm, ihre Daumen beim Händeschütteln reibend, als stets zu Diensten stehenden Lehrlinge vorstellten. Es waren zwei Landsleute, die anscheinend an dem Politikerforum teilnahmen. Der eine wollte das teure Bargeld abschaffen und der andere seinen störenden Betriebsrat. Der Volkswirt und der Maschinenbauer erfanden ein Mammon-Patent. Der Cash des Kreditinstituts sollte heimlich an die Heros des Volks-Betriebsrats flowen, um dann von diesen Glücks-Boten auf ein in Buchgeld umwandelndes Spesenkonto eingezahlt zu werden. Damit glaubten die beiden Chair-Männer of the Executive Board, zwei Zylinder mit nur einem Ventil steuern zu können. Hoffentlich streikt dann der Katalysator nicht, bilanzierte Jonathan, der spekulierend seine Rücklagen in Vermögensanlagen der Weltkonzerne umgeschichtet hatte.
Beim Kandidatenturnier starteten die Partien jeweils um zwei Uhr nachmittags. Die zweite Begegnung mit Peter Polgar hatte es in sich, denn Jonathan kämpfte in einem Endspiel mit Turm, Springer und Mehrbauern gegen eine übermächtige Dame ums Überleben. Da kamen ihm ein in Yale empor gestiegener Präsident und sein Zögling der Öl-Gouverneur zur Hilfe. Die zwei Kiebitze mit ihren Adleraugen schlichen von ihrem mit Bergen von Bildern gekrönten Konferenzraum in den holländischen Schach-Saal des Hotels. Sie wurden von ausspähenden Kameramännern umkreist, die den hysterisch, siegessicheren Polgar in erhöhtes Lampenfieber versetzten. Der jugendliche Schachgott schwang für die Galerie elegant seinen König durch die Lüfte, bis er sogleich in Panik geriet, weil er seinen Irrtum erkannte. Ein Zug mit der weißen Dame wäre vorteilhafter gewesen.
Das Tier in Jonathan bestand jedoch auf die Berührt-Geführt-Regel, so dass er sich schadenfroh in eine Zugwiederholung durch Dauerschach retten konnte. Umso geiler empfand der Schwarz-Spieler, dass diese Begebenheit in der SF Tagesschau ausgestrahlt wurde. Die Bewunderung und der Neid zahlreicher Bekannter waren ihm sicher.
Fischer bewohnte eine Junior Suite Deluxe, bei der die Getränke der Hausbar zunächst gratis waren. Am dritten Tag wurde der Kühlschrank mit den Spirituosen jedoch von der Femme de Chambre leer geräumt. Was war passiert? Sein Zimmernachbar der englische Meisterspieler Harry Bibber hatte sich betrunken und eine aus dem Zimmer geworfene, räuberische Konkubine auf dem Gang mit dem Notfall-Feuerlöscher übersprüht. Die pulverisierte Etage sah danach aus, wie nach einer winterlichen Übung der Jugendfeuerwehr.
Jonathan freute sich, dass der Terminplan ausgerechnet an diesem Tag seine Weiß-Partie gegen den Alkoholiker vorgesehen hatte. Es sah so aus, als ob Jonathan einen kampflosen Sieg erringen könnte, da sein Gegner bei Rundenbeginn seinen Kater immer noch nicht ausgeschlafen hatte. Mit fast einer Stunde Verspätung kreuzte der rothaarige Bibber doch noch auf und schmiss aus Versehen gleich seine schwarze Dame und den Matt zu setzenden König um. J´adoube – ich rücke zurecht, pflegen die Spieler in so einem Moment zu sagen. Jonathan wählte die Spanische Partie, und der mit den Figuren zaubernde Harry strebte den gefürchtete Marshall-Angriff an. Weiss besitzt dabei den Materialvorteil eines Mehrbauern, muss aber dafür die Eröffnungsinitiative hergeben. Der schweißgebadete Jonathan fühlte sich in seiner Haut sehr unwohl und kam nach zwei Stunden in große Zeitnot. Sein intuitiv, genialer Kontrahent, der pausenlos auf die Toilette rannte, hatte nur fünfzehn Minuten Bedenkzeit benötigt. Die Begegnung wurde später zur Partie des Jahres gekührt, weil Jonathan trotz riesigem Materialvorteil das erstickte Schachmatt durch den feindlichen Springer nicht mehr verhindern konnte.
Beim Gourmet Set Diner erfuhr der ein obligatorisches Jacket tragende Deutsche vom Underdog mit dem Sommersprossengesicht, nicht nur warum er die zu kostenintensive Bäuerin opferte, sondern auch, dass er das Marshall-Gambit im Schlaf beherrschte. Die gemeinsame Analyse im Doppelzimmer von Tamas und Peter, mit Hilfe der Computer-Spielerdatenbank, bestätigte Harrys Behauptung anhand vieler erfolgreichen Partien. Die Ungarn waren dadurch gewarnt und bereiteten sich besser auf ihre Begegnungen mit dem Engländer vor.
Am Abend tröstete sich der Möchtegern-Weltmeister Fischer, der es hasste lange Eröffnungsvarianten auswendig zu lernen, im Pay TV mit dem mehrmals gesehenen Arnold Schwarzenegger Science-Fiction Total Recall und mit anderen vergesslichen Mind-Movies.
Am folgenden Tag versuchte Fischer als Schwarzer, ebenfalls einen Bauernvorteil in einem Königsgambit gegen Kasparow zu behaupten. Er musste jedoch nach 33 Zügen die Überlegenheit des weltmeisterlichen Diktators eingestehen. Bei der folgenden Partieanalyse in der Wodka-Jelzin-Lounge versuchte ein sowjetischer KGB-Offizier namens Wladimir die Bauernhalte-Strategie vehement zu verteidigen. Der Demonstrationskunst von Garry war dieser Deutschlandverbündete allerdings nicht gewachsen. Garry Kasparow brachte seinen Landsmann letztendlich zum Schweigen, indem er spöttisch und verächtlich empfahl, seine aufrührerischen Gegner besser beim Judo zu unterwerfen oder den Erfolg versprechenden Schläger Put-Inn, beim Golfball-Einlochen in seinem Caddy zu verhaften.
Unglücklicherweise hatte sich der am königlichen Taschentuch schnüffelnde Fischer auf der Skipiste einen grippalen Infekt zugezogen, der ihn zunehmend schwächte und in seiner Freizeit ans Bett fesselte. Auch in der Schacharena ereignete sich fatalerweise an den folgenden Tagen eine nie dagewesene Pechsträhne mit vier weiteren Niederlagen. Fischer verlor gegen Kramnik in einer Russischen Partie, gegen Anand im Königsindisch, gegen Madl-Sautter im Damengambit und schließlich gegen Leko in der umstrittenen Eröffnungsvariante des Budapester Gambits. Jonathans Gebete um Erfolg schienen von Gott überhört worden zu sein, und das gelegentliche Studium in der Nachtkasten-Gideon-Bibel brachte ihm wenig Trost. Zu allem Überfluss verloren seine VW-Turbo Optionsscheine täglich an Wert und eine Spekulation auf die Deutsche Bank Aktie an der DTB (Deutsche Terminbörse/Nachfolger Eurex) erwies sich zum Verfalltermin als wertlos.
Nun reichte es Jonathan Fischer endgültig. Er entschloss sich Gott zu strafen, indem er nicht einmal mehr das Vaterunser vor dem Einschlafen betete. Als Kommunionkind war dies zu einer heiligen Gute Nacht-Tradition geworden. Statt dessen ergötzte sich Jonathan an dem Film neuneinhalb Wochen. Ausgerechnet bei einer der kulinarischen Schlemmerszenen mit der sexy Kim, klopfte es unvermutet an seiner Tür. Viktor Orlowski, der Vater seiner Schlussrunden-Gegnerin wollte ihn sprechen. Er bot ihm 600 Franken an, falls er am nächsten Tag absichtlich verliert. Jonathan hatte im vergangenen Jahr zwei Französische Partien gegen die äußerst hübsche Judith gewonnen. Darum hatte der Papa Angst, dass er ihr wie ein angeschlagener Boxer den ersten Platz mit 6600 Dollar Preisgeld kurz vor dem Schlussgong abtrotzen könnte. Die Tochter sollte von dem geheimen unmoralischen Angebot nichts erfahren. Als Jonathan selbst einmal durch solche Absprachen benachteiligt wurde, hatte er geschworen, bei den Geschäften der Schach-Mafia nie mitzumachen. Trotzdem begann ihm der Handel zu gefallen. Somit würde der Gentleman die Veranstaltung eben mit einem Negativrekord von lediglich einem von neun möglichen Punkten beenden und dafür mit dem Bestechungsgeld etwas Erregendes anfangen. Die folgende Suche nach der mit dem Brandlöscher weiß gewichsten Spaß-Gesellschafterin blieb jedoch erfolglos. Der Liftboy meinte zu wissen, dass Queen Theresa zu einem Vorstellungsgespräch beim Kantonalen Gesundheitsamt abgereist wäre. Das kam ihm spanisch vor, denn beim Lunch hatte sie doch gemosert, dass sie umgehend und zwingend eine Eidesstattliche Versicherung bei ihrem Wohnsitzfinanzamt abgeben muss.
Am nächsten Tag gewann Peter Polgar eine ebenfalls abgekartete Partie gegen seinen Sekundanten Tamas Bozi und wurde mit 14 Jahren zum jüngsten Männer-Großmeister ernannt. Den Turniersieg teilte er sich mit der frühreifen Frauenspielerin Judith Orlowski, die im rekordverdächtigen Alter von 15 Jahren den höchsten Schachtitel erhalten hatte.
Der zickige Peter wollte das Preisgeld zu Jonathans Leidwesen nicht bei seiner Sandbank Denkenstadt eG anlegen, sondern befolgte den Rat eines Schweizer Raiffeisen-Beraters und kaufte Parmalat Aktien. So ein Stinkerkäse, dachte sich Jonathan, die ausländischen Kollegen hatten wohl noch nichts aus den Südmilch- und Sachsenmilch-Pleiten gelernt. Überhaupt war das trotzige Kind seit ihrer Auseinandersetzung nicht gut auf ihn zu sprechen und machte sich auf der Rückfahrt schier in die Hose, als der Digitaltacho die zweihunderter Marke überschritt. Der letzte Nachtzug vom Züricher Bahnhof in Richtung Wien musste auf dem Heimweg für die Ungarn erreicht werden. Der Sportwagenfahrer Fischer verfolgte auf der Schweizer Autobahn einen Speedster mit dem Kennzeichen S-PS 231. Das schwarz-goldene Flügelcabrio mit dem Emblem Porsche 911, hatte wohl doppelt so viel Zugstutenstärken, wie sein tiefer gelegter violett-metallischer Opel GSI, der bei Bodenwellen aufgrund der Gepäcklast hinten schon mal aufsetzte. Tamas und Jonathan machte dies in ihren bequemen Recaro-Vordersitzen nichts aus, doch der saure Zögling auf der Rückbank wurde ranzig gerüttelt.
Ein schwarzer Ford Scorpio, der im Windschatten der Stuttgarter Autos zunächst Benzin sparen wollte, schaltete ein portables Blaulicht an und nötigte Jonathan bei der Raststätte Würenlos anzuhalten. Der Ziegenpeter konnte erlösend zum Pinkeln, und Jonathan bekam die Möglichkeit, seine Tuning-Umbauten den netten Schweizer Beamten anhand seines KfZ-Scheins zu erläutern. Für den Grippe geschwächten Kadett-Frisierer hatte das neue Jahr nicht gut begonnen, denn er bekam einen Strafzettel von 600 Franken für die überhöhte Geschwindigkeit verschrieben. Er konnte froh sein, dass die Ordnungshüter ihn überhaupt noch weiter fahren ließen, denn seine hinteren Goodyear Niederquerschnittsreifen hatten sich an den Radkästen glühend violett gescheuert.
Die Schachprofis wurden wie geplant am Bahnhof verabschiedet und Jonathan erreichte mit Mühe die eigene Heimat, wo sein Krankheitszustand sich weiter verschlechterte. Eine eitrige Entzündung im Oberkiefer brach hervor. Im Katharinenhospital wurde die Diagnose gestellt, dass ein Tumor im Kopf wieder nachgewachsen sei, der operativ entfernt werden musste. Jonathan war am Boden. Er weinte und bekam Todesängste. Er erinnerte sich an seinen Freund Richy Hammer, der ihm beim sommerlichen Abschied einen Bibelvers aufschrieb, in dem stand, er solle mutig und stark sein und sich nicht fürchten. Ein großes Briefkuvert aus Übersee wurde am selben Morgen Jonathan zugestellt. Darin befand sich das gemeinsame übergroße Foto mit Carl und Leroy. Hammer erinnerte den Held dieser Lebensfiktion in dem beigefügten Schreiben abermals an die aufgeschriebenen Worte aus dem ersten Kapitel des Josuabibelbuchs. Jonathan erschrak, als er beim Lesen der Zeilen an sein Versprechen erinnert wurde, nicht mehr an Schachturnieren teilnehmen zu wollen. Die kritische Operation wurde mit örtlicher Betäubung durchgeführt, was Jonathan nicht als angenehm empfand. Ein Kieferchirurg namens Martin Anrich erzählte dem Assistenten Dr. Christian Finckh von einem Hilfseinsatz in Albanien und seinen Plänen nach Macao zu reisen. Jonathan befürchtete, dass bei den ablenkenden Urlaubsgesprächen die geschickten Filigranhände nicht jedes Tumorgewächs zwischen seinen Zahnwurzeln entfernen würden. Prompt bekam er vom Operateur zu hören: „Hoffentlich habe ich alles erwischt. Ich bohre Ihnen jetzt ein Nasenfenster in die Kieferhöhle, damit in der Zukunft Entzündungen nicht so leicht auftreten.“ Finckh ein Arzt im Praktikum bemerkte: „Ich weiß jetzt wie es geht. Sonst hole ich den Rest halt nach meiner vollen Approbation an Ostern heraus.“
Der desillusionierte Jonathan lag noch eine Woche stationär und bekam Besuch von einer charmanten Dame. Vera Fischer hatte von seinem Bruder von dem Krankenhausaufenthalt erfahren und begann ihn, mit einem mitgebrachten Obstkorb aufzumuntern. Jonathan war überaus geschmeichelt und begann sich ein wenig in die einige Jahre ältere Diplomingenieurin zu vergucken. Waren die gleichen Nachnamen vielleicht ein Wink vom Allerhöchsten?
Der von den Ärzten gewünschte Heilungsverlauf stellte sich ein. Somit wurde der Patient in den gewohnten Lebensablauf und Berufsalltag zurückgelassen. Kurze Zeit später ereignete sich jedoch bedauerlicherweise ein großer Skandal in seinem vor 160 Jahren gegründeten Schachverein. Der Teammanager hatte beim Poker die ihm anvertrauten Gehälter aufs Spiel gesetzt und trotz Royal Flush verloren. Die Sponsoren zogen sich zurück, und die Berufsspieler mussten sich neue Vereine suchen, da sie ohne Geld dastanden. Der Bankfachwirt Fischer war froh, ein monetäres Handwerk auszuüben und sah das Ereignis als letzten Wink Gottes, sein Hobby an den Nagel zu hängen. Die künftige Erfüllung seines Lebenstraums würde eine Bestätigung für diesen schweren Entschluss sein.