Die Reise nach Albanien

 

Jonathan Fischer startete über das Internet einen englischen Bibelfernkurs, auf den ihn Vera Fischer gestoßen hatte. Diese Frau war ein Glaubensvorbild für Jonathan und ihn überraschte nicht von ihr zu hören, dass sie sich auf eine gefährliche Reise in das mit Bunkern und Munitionsresten übersäte Albanien begeben wollte. Der atheistische Staat hatte sich gerade von einer schlimmen kommunistischen Diktatur befreit und wurde das Armenhaus Europas genannt. Nein, in diesen für die Blutrache bekannten Landstrich würden ihn keine zehn Pferde bringen. Ihm reichten seine Erinnerungen an minderversorgte Ostblockländer, die er als Bundestrainer anlässlich der Blindenschacholympiade in Rumänien gemacht hatte. Bekanntlich soll man niemals nie sagen, denn Jonathan wurde vor eine interessante Entscheidung gestellt. Für die Entwicklungshilfe-Reise in den Balkanstaat hatten sich acht Frauen und ein Freund Jonathans angemeldet. Der Allianzmitarbeiter Richard Frank fiel aus, weil sein Arbeitgeber einen Kinder unterstützenden Großauftrag bekommen hatte. Nun suchte Vera einen männlichen Ersatz, der als Schutz vor Annäherungsversuchen gebraucht wurde. Jonathan selbst hatte nicht nur auf sie ein Auge geworfen, sondern auch auf eine blutjunge Studentin, die bei Vera zur Untermiete wohnte. Sie war britischer Herkunft, hieß Helen Richards und imponierte ihm als begabte Sängerin und Musikerin. Bei einem Treffen über die Ziele und Risiken der an Ostern geplanten Reise lernte Jonathan die anderen Damen kennen, von denen eine hübscher als die andere war. Natürlich würde er als Beschützer mitkommen, denn heftigste Angriffe südländischer Machos wurden erwartet, die er abwehren sollte. Jonathan besaß wenig Weisheit darüber, dass der allmächtige Gott den Menschen tief ins Herz schaut und deren Motivationen überprüft.

 

Der Tag der Abreise war gekommen und die zwei Flüge führten über Budapest nach Albanien. In Tirana gelandet blickte Jonathan aus dem Fenster und suchte das Flughafengebäude. Seine Sehorgane gaben im die Rückmeldung, dass er sich in den fünfziger Jahren befindet. „Was waren das für Wassertürme und wo kamen die Pferdefuhrwerke her?“, fragte er sich angestrengt. Fehler sind da, um daraus zu lernen, und deshalb übergaben die Angekommenen ihr Gepäck an freiwillige Helfer. Diese trugen die Lasten so schnell in Richtung der W123 Taxis, dass sich hinterher niemand über das Fehlen eines Koffers wunderte. Zum Glück befanden sich darin lediglich Zahnbürsten und Zahnpastatuben, die von einer netten Firma gespendet wurden und jetzt anderweitig ihre Bestimmung finden würden. Es war schon schwierig genug die Taschen in den Kofferraum der drei Mercedes-Benz hineinzubekommen, da die jugendlichen Träger ohne ein unverschämtes Trinkgeld diese sonst nicht herausgegeben hätten. Der Tacho des Oldtimer der zweihunderter Diesel-Baureihe in dem Jonathan mitfuhr zeigte einen Stand von vierhunderttausend Kilometer an. Die eigentliche Akklimatisierung erfolgte im Hotel, in dem ein Empfangskomitee die Angekommenen empfing. Die Menschen waren überaus warmherzig und drückten dies durch Umarmungen und einen Begrüßungskuss auf die Wange aus.

 

Das Programm der ersten Woche spielte sich in der Hauptstadt des an der Adria gelegenen Staates ab. Vera war in ihrem Beruf für die Müllentsorgung und Stadtreinigung zuständig und fühlte sich dazu berufen, die Vorzüge der schwäbischen Putzsucht in dem kleineren Land einzuführen. In ihrem Eifer wollte sie sogar im späteren Leben die goldenen Straßen im Himmel säubern und diskutierte mit einer mitgereisten Zahnärztin namens Reinhild Scheu, ob dies im Paradies nötig sein würde. Der Anblick der albanischen Straßen, auf deren Seitenstreifen der Abfall auf Häufen hingeschmissen wurde, war ernüchternd. Die Müllarbeiter mussten mit der Hand den Unrat in die Müllwagen schaufeln. Übels stinkende Tierkadaver wurden vor Ort mit Benzin übergossen und angezündet. Dr. Scheu besuchte die kieferchirurgische Abteilung des städtischen Krankenhauses und machte zunächst Fotos von den veralteten Geräten. Der Aufbau der Einrichtung einer ausgemusterten deutschen Zahnarztpraxis wurde von der netten Medizinerin überwacht. Ihre ausländischen Kollegen waren überaus erfreut. Es stellte sich heraus, dass der Kieferchirurg Martin Anrich, der Jonathan operierte, einen ebenso positiven Eindruck an diesem Ort in der Vergangenheit hinterlassen hatte. Auch das Stuttgarter Ehepaar Marika und Stefan Barth hatte sich durch den Aufbau einer Poliklinik in der albanischen Hauptstadt einen guten Ruf erworben. War das nicht das Ehepaar das gemeinsam mit seinem Idol Jürgen Klinsmann vor kurzem die Agapedia-Stiftung gegründet hatte? Jonathans Vermutung wurde von seinem Begleiter anlässlich des Besuchs des Fußballspiels zwischen FK und Dinamo Tirana bestätigt. Die fußballbegeisterten Albaner liebten die Deutschen Fußballstars und kannten diese und ihre Freunde genau. Die Bevölkerung hängten bei großen Turnieren sogar die Deutschlandfahne aus den Fenstern und schossen bei Deutschlandtoren im Fernsehen mit ihren illegalen Pistolen vor Freude in die Luft.

Als weitere Freizeitbeschäftigung wurde von der Gruppe die Oper in Tirana besucht. Eines der bekanntesten Mozart-Werke „die Zauberflöte“ wurde aufgeführt. Jonathan wunderte sich, als er den Opernführer und das Geschehen genauer studierte. Er meinte zu erkennen, dass es sich hier um den Versuch handelte, ihn für eine Freimaurerloge zu gewinnen. Seine Begleiterinnen konnten seine Skepsis überhaupt nicht verstehen und trällerten die weltbekannten Arien auswendig mit.

 

In der zweiten Woche wollte die Reisegruppe die Schönheit des nördlichen Berglandes inspizieren und fuhr mit der Bahn nach Shkodra. Teilweise waren die Fenster des Zugs eingeschlagen und die Sitzpolster herausgerissen, was Jonathan schockierte. Ein Mann im Abteil war besonders aufdringlich, denn sobald eine der hübschen Frauen eine Trinkflasche aufmachte, wollte er nach einheimischer Sitte etwas abhaben. In Shkodra wurden sie von einem schwedischen Missionar namens Ulf Gouderner empfangen, der die Campus für Christus-Studentenarbeit in der Universität aufbaute. Als Übernachtungsstätte diente ein kleines, umzäuntes Haus, das nur eine Dusche besaß, deren Abfluss gleichzeitig als Toilette diente. Von seinen Schwarzwaldbauernhofaufenthalten war Jonathan als Kleinkind an ein Plumsklo gewöhnt, aber die Begleiterinnen hatten so etwas noch nicht gesehen und gerochen. So gab es über die zeitliche Nutzung dieses Badezimmers schon einmal einen Streit unter den Frauen. Der harmonische und nette Umgang untereinander wurde dadurch jedoch kaum getrübt.

 

Der Deutsch, Englisch und Albanisch sprechende Schwede Ulf organisierte einen Einsatz in der Aula der Universität. Zunächst führte das deutsche Team ein Pantomimenstück auf und danach sang Helen einige Lobpreislieder, die sie selbst mit der Gitarre begleitete. Der Höhepunkt war eine Danceshow von vier Glaubensschwestern, die von christlicher Popmusik auf einem Ghettoblaster begleitet wurde. Das größtenteils männliche Publikum tobte vor Begeisterung und forderte eine Zugabe. Den Schluss bildete eine kurze Predigt auf Albanisch von Gouderner und eine Einladung zu einem Gottesdienst. Seine wöchentliche Bibelandachten hatten sich bereits an der Uni etabliert. Das Sprachtalent Ulf hatte in zwei Jahren nahezu perfekt Albanisch gelernt und imponierte Jonathan genauso stark wie es Pastor Georg Müller tat.

 

An einem der folgenden Tage wiederholte die Gruppe die Vorstellung an einem öffentlichen Platz. In Shkodra war es üblich, dass die Menschen abends in der Fußgängerzone auf und ab schlenderten und sich in der zentral gelegenen Grünanlage mit schönem Teich trafen. Es war gut für das Team, dass sich im Programmablauf schon eine gewisse Routine eingespielt hatte, denn umgehend hatten sich etwa fünfhundert neugierige Menschen zusammengeschart, um das attraktive Schauspiel zu verfolgen. Am Ende machte Ulf Gouderner einen Aufruf und fragte wer sein Leben an Jesus Christus übergeben möchte. Die Hälfte der Menge signalisierte dies mit einem ungenierten Handzeichen. Jonathan und seine Helferinnen begannen, Einladungen für neu geplante Sonntagsgottesdienste zu verteilen und wurden dabei von einigen Katholiken laut beschimpft. Ein kleiner Aufruhr bahnte sich an, als einige Männer versuchten gewaltsam an die Handzettel zu kommen und begannen diese zu zerreißen. Das Erzbistum besaß eine große Kathedrale, die der Diktator Enver Hoxha in seiner Schreckenszeit zur Turnhalle umfunktioniert hatte. Die berühmte Agnes Gonxha Bojaxhiu besuchte als Kind die katholische Mädchenschule Shkodras. Die Heilige ist unter dem Namen Mutter Theresa besser bekannt. Der Dienst von Ulf wurde trotz aller Angriffe stark gesegnet, denn er konnte am darauf folgenden Sonntag in der Stadt mit der größten Moschee des Balkans einen gut besuchten Gottesdienst starten.

 

Nach einem ausgiebigen gemeinsamen Frühstück begab sich die Reisegruppe zu einem der höchsten Gebäude Shkodras. Ulf schlug Jonathan vor, ein Treppenrennen bis zum Aussichtspunkt zu veranstalten. Der Gewinner sollte vom Verlierer ein Essen bezahlt bekommen. Der siegessichere und durchtrainierte Jonathan geriet rasch in Rückstand, denn er konnte dem groß gewachsenen, blonden Skandinavier nur schwer folgen. Am abschließenden Stufenaufgang mobilisierte Jonathan seine letzten Kräfte. Seine Füße wurden denen eines durstigen Hirschen gleich und er schaffte einen auf gleicher Höhe stattfindenden Zieleinlauf. Die einige Zeit später eingetroffenen Frauen überreichten den Kampfhähnen als Gewinnerpokal eine Mineralwasserflasche. Ein weiterer Lohn für die Strapazen war der sich bietende Blick auf die karge Seen- und Berglandschaft. Das folgende Wettrennen-Mittagessen in einem Gartenrestaurant bezahlte der schmächtige Ulf zum ersten Mal selbst.

 

Die Essensgesellschaft machte sich auf den Weg an die Adria, um die für April ungewöhnlich hohen Temperaturen zu genießen. Ulf besaß einen alten VW-Bus und wollte sich aus Dankbarkeit gegenüber seinen neuen Freunden mit dem Anblick der unberührten und unbebauten Mittelmeerküste revanchieren. Am Strand hatten sich einige albanische Familien versammelt, und Jonathan beobachtete eine kleinere Gruppe von Einheimischen beim Blitzschach. Beim Kiebitzen stellte er fest, dass die Männer das Schnellschachspiel mit der Uhr, bei dem jeder Spieler fünf Minuten Zeit bekam, gut beherrschten. Er wurde auf Englisch eingeladen eine Partie um Geld mitzuspielen und ihm war klar, dass er als reicher Tourist ausgenommen werden sollte. In seinem Leben wurde Jonathan immer wieder belächelt und unterschätzt, was er auf seine bübische Stimmlage und seinen schmalen Oberkörper zurückführte. Jonathan gewann nicht nur eine Partie nach der anderen, sondern er zog seinen Gegnern auch noch sämtliches Geld aus der Tasche. Er war mächtig stolz, denn seine hübschen Begleiterinnen fingen an, ihn zu bewundern, da sie zuvor nichts von seinem Talent wussten. Umso mehr prahlte der blonde Lockenkopf auf dem Rückweg von seinen vielen Erfolgen und Auszeichnungen. Ein Auto überholte den Bus von Ulf Gouderner und zwang ihn zum Anhalten. Die vierköpfige Gruppe der Schachspieler öffnete wütend die Schiebetür und verlangte von Jonathan, das gewonnene Geld zurückzugeben. Ulf drängte Jonathan der Forderung nachzukommen und warnte ihn vor der vorherrschenden Blutrache. Jonathan wollte nicht hören, schließlich hatte er als ehrlicher Verlierer seine Spielschulden immer bezahlt. Ein heftiger Streit entwickelte sich, der in Handgreiflichkeiten und schließlich in einem Ko-Schlag endete.

 

Als Jonathan wieder aufwachte lag Ulf seitlich in seinem Bett und drückte sein Herz auf das Herz in seiner Brust. Jonathan hatte zunächst Angst, dass Gouderner vom anderen Ufer wäre, doch dieser hatte nur für ihn gebetet. Der Geistliche fragte ihn unvermittelt warum er nach Albanien mitgeflogen sei. Jonathan errötete und gestand, dass der Hauptgrund das Verlangen nach einer Freundin war. Ein vergessener Ratschlag wiederholte sich. „Trachte zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, und alles was du sonst benötigst wirst du bekommen. Suche den Willen Gottes für jeden Tag und tue alles zu seiner Ehre“, waren die Worte des Seelsorgers. Beim abendlichen Essen genoss es Jonathan sichtlich, von seinen Begleiterinnen bemitleidet und von Reinhild an seinem Kinn gekühlt zu werden.

 

Der folgende Tag brachte ein weiteres, unvergessliches Abenteuer für den Fiktionshelden Jonathan Fischer. Ulf Gouderner hatte die Idee albanische Neue Testamente zu verschenken, indem Zweiergrüppchen die Straßen abklapperten und an den Häuser klingelten. Zunächst traf man sich in den Gemeinderäumen des netten evangelikalen Jugendpastors Ares Kaftalli, um die Taschen mit den Büchern über den Neuen Bund zu füllen. Bei den vielen attraktiven Damen fiel es Ares nicht schwer, sechs ausgewachsene Mannsbilder als Dolmetscher zu motivieren. Einzig das Grüppchen um Jonathan und Reinhild war der Landessprache nicht mächtig, was sich als Nachteil entpuppte. Verständlicherweise stieß das neue Paar gerade bei moslemisch geprägten Haushalten auf Ablehnung verknüpft mit unverständliche Schimpftiraden. Eine größeres Sorge bereitete Reinhild die in den Höfen herum streunenden Hunde, vor denen sie tierischen Respekt hatte. Jonathan genoss es, den Beschützer zu spielen und den Viechern entschlossen entgegen zu treten. Ein älterer Herr beobachtete das Treiben und winkte sie herüber. Dankbar nahm er ein Buch an und begann darin zu blättern. Er freute sich sehr darüber. Jonathan und Reinhild mussten in seinem Vorgarten Platz nehmen und bekamen von der Tochter des Hauses auf einem Tablett einen türkischen Kaffee serviert. Der eigentliche Gastgeber war in sein Haus verschwunden, um mit einem kleinen Schwert und ein paar Spießen wieder zurück zu kommen. Reinhild wurde noch ängstlicher. Hilfe suchend umarmte sie Jonathan. Wohlwollen signalisierend legte der albanische Rentner seine Mordwerkzeuge beiseite. Er steckte immer wieder seinen rechten Zeigefinger in seinen zu einem Kreis geformten linken Zeigefinger und Daumen und deutete abwechselnd auf die Besucher, die vor Scham rot anliefen. Nachdem sich die Lage zu entspannen schien, nahm der sich drehende Derwisch die Spieße und durchstach damit seine Backen, wohlgemerkt die Eigenen. Jonathan fühlte sich an Fernsehreportagen von philippinischen Karfreitags-Prozessionen erinnert und die Zahnärztin Scheu schüttelte, ob dem hohen Infektionsrisiko den Kopf. Der gut gemeinte ekstatische Auftritt war ihr viel zu viel. Mit einem hektischen „Mirupafshim“, das eher als Nimmer-Wiedersehen gemeint war, sprangen die Deutschen davon. „Ach“, seufzte Reinhild, „muss Evangelisieren immer so mühevoll und aufregend sein?“ Jonathan bekam den Einfall zu beten: „Lieber Jesus, hilf uns dein Wort ohne Stress und Krampf auszuteilen.“ Das Gebete nicht immer sofort erhört werden, offenbarte die Begegnung mit der nächsten Hundemeute. Warum auch immer fügte gerade der hüpfende, kleinste Kläffer eine minimale Bisswunde an Reinhilds linker Hand zu. Reinhild weinte. Jonathan reichte ein Taschentuch. Eine große Schülerschar näherte sich, die Unterrichtsende hatte. „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder könnt ihr nicht ins Himmelreich eingehen!“, resümierte Jonathan und Reinhild begriff: „Dann teilen wir die Schriften an die jüngsten Jünger aus. Die nehmen das Wort mit Freude an!“ So fand die Verteilaktion erst recht ein erfolgreiches Ende.

 

Am Mittag wurde ein Spaghetti-Essen in den Gemeinderäumen gereicht. Ares und Ulf wollten den gelungenen Briefträger-Verlauf am Nachmittag fortsetzen, was auf wenig Gegenliebe bei Reinhild Scheu stieß. Deshalb wurde sie überredet, zur Abwechslung den erfahrenen schwedischen Evangelisten zu begleiten, während Jonathan die äußerst charmante Helen Richards zugeteilt bekam. Zunächst setzten sich jedoch die Probleme fort, weil das neue Glück wiederum auf viel Ablehnung stieß. „Ich fühle mich wie ins kalte Wasser geworfen, Helen!“ „Dann müssen wir wie Jona im Fisch anfangen den Herrn zu preisen, Jona-than Fisch-er!“ Oh, was für eine wunderschöne Stimme diese Frau besaß. Kein Wunder werden so viele Lieder in Englisch gesungen, ging es dem deutschen Sänger durch den Kopf. Die geistige Atmosphäre hatte sich verändert, denn auf einmal wurde eines nach dem anderen der Neue Testamente angenommen. Das man sich nicht zu früh freuen soll, indem man den Tag vor dem Abend lobt, lehrte eine Frau die das überreichte Buch argwöhnisch beäugte, um es hierauf Jonathan an den Kopf zu hauen. Sie schrie wohl auf Albanisch, dass sie „katolike“ wäre, meinte der auf seine Brust deutende und ebenfalls „katolik“ (katholisch) aussprechende deutsche Missionar zu verstehen. Die Tochter wurde hinzugerufen. Das vor dem Schulabschluss stehende Mädchen sprach Französisch. „Oh, mon Dieu“, Jonathan hatte die Fremdsprache mit einem Mangelhaft abgewählt. Helen und ihr Begleiter wurden in die gute Stube herein gebeten. Jonathan punktete mit seiner klösterlichen Verwandtschaft, der vor kurzem verstorbenen Schwestertante Hanna, die Nonne war. Die holprige Unterhaltung machte deutlich, dass ein Katholik die Bibel nicht lesen soll, weil er sie sowieso nicht verstehen kann. Schließlich war es in den vergangenen Jahrhunderten lediglich den Klerikern vorbehalten die Vulgata – lateinische Version der Bibel – zu gebrauchen. Nach diesen Erläuterungen versuchte die Gastgeberin ihre Tochter Lea mit Jonathan zu verkuppeln. Das Mädchen war in der Tat bildhübsch und versuchte Jonathan ebenfalls, mit charmanten Augenaufschlägen um die Finger zu wickeln. Helen beobachtete alles für kurze Zeit interessierter, aber die angehende Lehrerin verstand nur Bahnhof. Nachdem die Gespräche bei den Preisverhandlungen angekommen waren bzw. die zukünftige Schwiegermama sich nach etwaigen Ländereien und Häusern in Deutschland erkundigte, zog es der Witzbold Fischer vor, gemeinsam mit Helen die Heimreise in ihr Quartier anzutreten. Beim bevor stehenden Abendessen tauschten sich die Teilnehmer aus, und hauptsächlich Helen hatte viel zu lachen.

 

Am nächsten Morgen verließ die Gruppe das Gebiet um den Shkodrasee in Richtung albanischer Alpen. Diesmal hatte Ulf einen kantigen Puch G-Modell Geländewagen von Ares Kaftalli organisiert. Das Transportgefährt hatte ebenfalls vierhunderttausend Kilometer auf dem Buckel und hatte im Rekordfall schon vierzehn Personen befördert. Wenigstens die Ersatzteilversorgung schien in dem Entwicklungsland zu funktionieren, folgerte Jonathan. Er liebte es, zwischen Helen Richards und Reinhild Scheu eingequetscht im senkrechten Kasten-Nutzraum zu sitzen. Die Haut seiner Nebensitzerinnen fühlte sich weich an, wie die eines Babys, wenn sich ihre Arme ungewollt bei der Bergauffahrt durch zahlreiche Serpentinen berührten. Die Unterhaltung wurde immer angeregter, als sie an einen unberührten Gebirgsee gelangten. Dort wollten sie ihr mitgebrachtes Vesper einnehmen und eine längere Zeit in der Frühlingssonne verbringen. Jonathan imponierte der Gruppe, indem er in das kalte Wasser sprang. Ulf hatte schon angekündigt, dass ganz abgehärtete Schwimmer ihre Badesachen mitbringen sollen. Helen und Reinhild folgten Jonathan ins Wasser und genossen es, ihn nass zu spritzen. Als diese zwei himmlischen Wesen das Wasser mit ihren feuchten Badeanzügen verließen, wusste Jonathan nicht wo er zuerst hinschauen sollte. Ihm schien es so, als ob er noch nie schönere Rundungen und Merkmale vom anderen Geschlecht wahrgenommen hatte. Hormone wurden in seinem Körper ausgeschüttet und sein Blut begann schneller zu zirkulieren. Der aufmerksame Missionar Gouderner nahm dies zum Anlass, ihn bei Seite zu nehmen. Er zeigte ihm eine Stelle in der Bibel wo stand, dass man eine Jungfrau nicht lüstern anschauen soll. Er erklärte ihm weiter, dass Gott ihm genau zum richtigen Zeitpunkt eine Frau schenken würde mit der er schöne erregende Erlebnisse haben dürfte. Er betete für ihn, dass er seine Aufgabe als Begleiter im Sinne Gottes richtig wahrnimmt.

 

Drei Jungen im pubertären Alter näherten sich, die von weitem das Treiben am See verfolgt hatten. Ulf erklärte Jonathan er habe den Eindruck, dieser soll den Gebirgsbewohnern seine erste Missionspredigt halten, mit ihm als Übersetzer. Die Erlebnisse als Fahrer bei der Leichtathletik WM begeisterten diese so stark, dass sie eine halbe Stunde gespannt zuhörten. Bevor sie gingen nahm jeder der drei moslemisch erzogenen Einheimischen freudig eine Bibel an. Zwei der blonden christlichen Tänzerinnen hatten die Idee, zum Abschied für sie zu beten, was sofort dankbar angenommen wurde.

Nachdem die Gruppe eine wunderschöne Zeit im albanischen Gebirge verbracht hatte, begab sie sich auf den Heimweg. Es begann zu dämmern und wiederum wurde ihr Fahrzeug von einem anderen Wagen zur Seite gedrängt und zum Anhalten gezwungen. Zwei zwielichtige Männer, die an der Seite eine Pistole trugen, inspizierten das Fahrzeug. Es schien so, als ob sie sich bei Ulf auf albanisch erkundigten, woher die Mitfahrer stammen, weil er jeden von ihnen beim Namen nannte. Einer der Männer öffnete die Hecktür und fasste Helen an ihren Armen. Jonathan flippte aus und wollte abermals handgreiflich werden. Der hinzugekommene Ulf beruhigte ihn und sagte, sie sollen einfach aus dem Kofferraum herauskommen. Die zwei albanischen Ordnungshüter durchsuchten den hinteren Wagenteil, gaben sich mit einer Coca-Cola Flasche zufrieden und brausten weiter ihres Weges. Dass zehn Leute in einem für fünf Personen zugelassenen Wagen befördert wurden, störte in diesem Land die Polizei überhaupt nicht. Jonathan ließ das Tagesgeschehen vor dem Einschlafen nochmals Revue passieren. Er fühlte sich wie auf einer Achterbahnfahrt der Gefühle, wenn er an Helen und Reinhild dachte. Er wusste nicht für welche der zwei er sich entscheiden sollte, da jede auf ihre Art äußerst attraktiv und sympathisch war. Er erlebte gedankliche Höhen- und Tiefenflüge und fragte sich, ob er bei einer der Angehimmelten Chancen hat und welche die Richtige sei. Anstelle sich weiter eine der Hübschen bildlich vorzustellen, sah er plötzlich in seinem Kopf die drei Jungs, denen er Zeugnis gegeben hatte. Ein unbeschreibliches Gefühl der Freude umgab ihn und Tränen kullerten über seine Backen. Er erinnerte sich an die Vorhersage der Nonne, er solle Pfarrer werden. Hatten ihm nicht zwei Pastoren mit ihren Ratschlägen versucht deutlich zu machen, auf das selbe Ziel hinzuarbeiten?

 

Der zweiwöchige Osterurlaub neigte sich seinem Ende zu. Gouderner brachte die Gäste in seinem VW-Bus mit dem Gepäck auf dem Dachträger an den Flughafen nach Tirana. Er sprach von einer kommenden Erweckung und legte die wegweisende Ohrwurmcassette „I have loved you“ von dem christlichen Songwriter Kent Henry ein. Jonathan gingen die Lieder „Help us“ und „Prayer for the wounded“ nicht mehr aus dem Kopf, so dass er sich nach seiner Ankunft in Stuttgart die 1993 produzierte CD im am Charlottenplatz 6 gelegenen Charisma Shop besorgte. Jonathan deckte sich in diesem christlichen Buchladen regelmäßig mit Tonträgern und Literatur ein. Besonders freute er sich später über einen Bestseller von Ulf Gouderner, der von wahrem geistlichen Leben handelte. Die erfolgreiche theologische Abhandlung mit dem Titel „Ein verletztes Schaf ist wichtiger als neunundneunzig Gesunde“, zeigte Gemeindeleitern und Laien wie notwendig es ist, seelisch verwundeten Menschen in der Kirche zu helfen. Später sorgte Ulf bei seiner Rückkehr in den hohen Norden nach Schweden für Furore, indem er die am schnellsten wachsende Landeskirchliche Gemeinschaft Europas gründete.