Carlsen gegen Niemann

Nach der Fernsehserie “das Damengambit” ist Schach wieder in vieler Munde. Der Streit zweier Kontrahenten wird gerade in die sozialen Medien hinausgetragen und entzweit die Schachwelt. Es geht um Betrug mit unerlaubten Hilfsmitteln. Diesen Vorwurf stellt Magnus Carlsen durch seinen seltsamen, nie dagewesenen Rückzug beim Sinquefield Cup in St. Louis in den Raum. Ohne viel auf Twitter zu sagen, wurde ein Zitat von Fußballtrainer Morinho aus einer Pressekonferenz geteilt:

Wenn ich spreche, bin ich in großen Schwierigkeiten.

Als ersten Eindruck sieht man einen eingeschnappten Weltmeister, der nach 53 unbesiegten Partien, nicht überwinden kann, gegen einen jungen, aufstrebenden US-Großmeister verloren zu haben. Also wird nach drei Runden aus Protest das Handtuch geworfen. Schuld an der Niederlage sollen nicht die eigenen, schwächeren Züge, sondern ein unsichtbares Computerprogramm im Hintergrund sein. Dazu gibt es drei Wochen später ein weiteres Statement des Norwegers:

Ich glaube, dass Niemann mehr – besonders in jüngerer Zeit – betrogen hat, als er öffentlich zugegeben hat. Seine Fortschritte bei Turnieren am Brett waren ungewöhnlich, und während unserer Partie beim Sinquefield Cup hatte ich den Eindruck, dass er in kritischen Stellungen nicht angespannt, nicht einmal völlig auf das Spiel konzentriert war, während er mich mit den schwarzen Steinen auf eine Art und Weise überspielte, wie es meiner Meinung nach nur eine Handvoll Spieler vermögen.

Zu dieser Handvoll Spieler rechnet die 2856 Punkte Nummer 1 der Weltrangliste offensichtlich nicht den 19-jährigen Hans Moke Niemann, der Anfang Oktober 22 mit einer Elo-Wertung von 2699 immerhin Nummer 40 ist. In Deutschland hat der beste Spieler als Vergleich eine Elozahl von 2700. Vincent Keymer hat mit seinen 17 Jahren einen ähnlich steilen Weg nach oben hingelegt und sich beispielsweise beim Julius Bär Generation Cup ins Halbfinale gekämpft. Mit einem deutlichen Sieg im Finale gegen den 19-jährigen Inder Arjun Erigaisi wehrte der 31-jährige Magnus Carlsen jedoch alle jugendlichen Angriffe ab. Mit seinem “anti-young-player chess” zeigte der erfolgreiche Schachunternehmer, wer Herr im Knockout-Ring ist. Als weiteres Zeichen seiner Macht gab er in der Vorrunde seine Partie gegen Niemann nach einem Zug verloren. Die Live-Kommentatoren konnten nicht fassen, als sein Bild schnell wieder auf dem Schirm verschwand. Ausgeloggt! Der Weltmeister, der seinen Titel nicht verteidigen will, ziert sich anzutreten. Dies gilt besonders für Herausforderer, die seiner Meinung nach vermeintlich betrügen.

Diese Protestaktion verschaffte wenig Sympathien in der Schachszene. Fairplay wird bei Carlsen und nicht bei Niemann vermisst. So lautet das Motto des ermahnenden Weltverbands FIDE:

Gens una sumus! – Wir sind eine Familie!

In der Kritik steht der Schachprimus auch deshalb, weil seine erzielten Preisgelder oft von ihm selbst ausgelobt wurden, und er wirtschaftlich sehr einflussreich ist. Die Play-Magnus-Gruppe bekam erstaunlicherweise im August ein Übernahmeangebot von 82 Millionen USD von Chess.com. IM Danny Rensch, der Chef des größten Onlinechess-Anbieters, spielt bei allen Betrugs-Vorwürfen im Hintergrund eine gewichtige Rolle. Das Cheating im Chess geht nämlich am einfachsten von Zuhause aus gegen einen Gegner, der sonst irgendwo auf der Erde mit dem Internet verbunden sitzt und zugelost wird. In der Regel wird dabei kein Geld verdient, es sei denn man hat einen beliebten Twitch Live-Stream, oder die gespielten Partien werden auf einem ertragreichen YouTube-Kanal später nochmals millionenfach abgerufen. Bei Rekordsieger Hikaru Nakamura und anderen Schnellschachprofis erfreut sich der “Titled Tuesday” großer Beliebtheit. Aufmerksamkeit der Fans ist den Titelträgern sicher. Mit 1000 USD ist der Lohn für den ersten Platz eher bescheiden.

In diesem Zusammenhang macht allerdings ein weiteres Interview von Magnus die Runde:

“Ich muss sagen, dass ich von Niemanns Spiel sehr beeindruckt bin. Sein Mentor Maxim Dlugy macht einen großartigen Job!”

Dlugy hat das Dienstagblitzturnier in der Vergangenheit zweimal gewonnen. Daraufhin wurde er 2017 und 2020 gesperrt. Es gibt ein Betrugserkennungsprogramm im Online-Schach, welches die menschlichen Züge mit den besten Computerzügen vergleicht und bei häufigen Übereinstimmungen mit einer Löschung des Kontos einschreitet. Deshalb ist es beim Betrug wichtig, zweitbeste Züge zu machen oder unterschiedliche Programme zu verwenden. Der reuige Sünder Maxim Dlugy hat in seinen enthüllten E-Mails an Danny Rensch dann auch zugegeben, dass seine schwächeren Schüler ihm als Training die besten Züge zugerufen haben, ohne vermeintlich zu wissen, dass ein Schachprogramm auf einem verborgenen Smartphone im Hintergrund lief. Die Schuld liegt wie immer bei jemandem anderen. Der New Yorker Investmentbanker und Schachtrainer wurde gnädigerweise sogar wieder zwei- oder dreimal entsperrt. Nichtsdestotrotz will der in Moskau geborene ehemalige Jugendweltmeister seinen Namen gar nicht in Zusammenhang mit Betrugsvorwürfen hören und droht Carlsen mit einer Klage.

Unschuldslamm oder Wolf im Schafspelz?

In diesem Zusammenhang ist besonders erwähnenswert, dass Großmeister Niemann mit 12 Jahren und mit 16 Jahren auf Chess.com verbannt wurde. Dies gab er beim Bekanntwerden der Betrugsvorwürfe in St. Louis vor der Kamera als Jugendsünden zu. Gleichzeitig zeigte er sich empört, dass sein Account nach den neuerlichen Verdächtigungen wiederum (auf Geheiß Carlsens?) gelöscht wurde. Dadurch würde seine Karriere zerstört. Eventuell liegen mehr unveröffentlichte Details vor, zu denen das Mobbingopfer nicht Stellung nehmen wollte. Hans Niemann ist ein ausgesprochen starker Bullet- und Blitzschachspieler, dessen Partien spannend sind zu beobachten. Der Stress beim Einminute-Bedenkzeit-Schach ist besonders groß und wird von der Jugend mit der Hand an der Gamingmaus besser bewältigt, als von den lahmen Großeltern. Schach ist übrigens eine anerkannte Sportart. So durfte der im C-Kader geförderte Schreiber dieser Zeilen den Großteil seines Wehrdienstes bei der Sportkompanie in Warendorf verbringen oder freigestellt IM-Titelnormen in Auslandsturnieren erzielen. Um Erfolg im Sport zu haben, muss man sich Ziele stecken. Ein Internationaler Meister (IM) benötigt mindestens 2400 und ein Großmeister (GM) 2500 Elo.

In der Wikipedia-Biografie von Hans Moke Niemann erfährt man, dass er in den Niederlanden im Alter von 8 Jahren einer der besten im Radfahren war. Doping wird dabei keine Rolle gespielt haben, aber ohne Ehrgeiz und Training geht nichts. Ein besonderer Ansporn für Niemann war wohl, dass ihm unterstellt wurde, zu wenig Talent für das Schach zu haben. Im Multimedia-Zeitalter lässt sich schön verfolgen, dass der Junge seine Kritiker Lügen gestraft hat. Heutzutage wird fast jede Partie von wichtigen Schachturnieren in Datenbanken aufgezeichnet. Dies spielt bei Präsenzturnieren eine besondere Rolle bei der Vorbereitung auf den nächsten Gegner. In der Regel wird bei der persönlichen Begegnung am Brett mit längerer Bedenkzeit nur einmal pro Tag gespielt. Um nicht in unbekanntes Fahrwasser zu geraten, ist es wichtig, die Anfangszüge eines Spiels als Theorie zu kennen. Manche Varianten gehen allerdings über 20 Züge und erfordern ein besonders gutes Gedächtnis. Magnus Carlsen ist schwer auszurechnen, da er gerne unkonventionell spielt oder Eröffnungen häufig wechselt, die oft Ländernamen haben wie Spanisch, Italienisch, Französisch usw..

Besonders düpiert hat Niemann den weltmeisterlichen Eröffnungsexperten mit einem verkündeten lächerlichen Wunder, die sich ereignende Theorievariante beim morgendlichen Studium, exakt so auf dem Analysebrett gehabt zu haben. Das wurde von verschieden Experten angezweifelt, da sich dieselbe Zugfolge nicht in den von Magnus gespielten Partien finden ließ. Gleichwohl gab es eine mögliche sogenannte Zugumstellung in der katalanischen Eröffnung, die Carlsen gegen So so gespielt hatte. Nachdem ich die Verlustpartie zum ersten Mal nachgespielt habe, kam ich nicht auf die Idee, dass ein starkes Computerprogramm am Werk war. Eine hundertprozentige Beweisführung fällt sowieso schwer, denn schließlich verbessern sich die Meister ihres Fachs stetig durch ihren PC im Training.

In meiner Münchner Zeit als Bundesligaspieler ersetzte ich meinen Atari ST mit einem 386 PC. Mein älterer Bruder legte mich einmal damit herein, weil ich prahlte, ihn mit verbundenen Augen zu besiegen. Er gewann jedoch, da ich nicht checkte, dass er meine Züge am Bildschirm eingab. Als Werkzeug der Schachbetrachtung verwenden auch heute viele Spieler das ChessBase-Programm. Die Firma aus Hamburg hat auch das Tool “Let’s Check” entwickelt. Ein Fidemeister*in aus Paris hat damit Niemann unter die Lupe genommen und ist zum Schluss gekommen, dass dieser in entscheidenden Situationen sehr akkurat und viel besser als alle Weltmeister gespielt hat. Als weitere Abnormalitäten wurde in einer Betrachtung aufgelistet, dass Hans Moke bei zeitgleich übertragenen Präsenzturnieren viel besser abschnitt, als wenn keine digitalen Holzbretter und Figuren benutzt wurden. Andere Kritiker störten sich daran, dass der “chess speaks for itself” Sprücheklopfer seine Partien in Analysen nicht klar erläutern kann. Ein gespielter Akzent oder das genannte Vorbild eines Kriminellen auf Netflix warfen Persönlichkeitsfragen auf. Psychologen, mit dem Spezialgebiet der Deutung von Körpersprache, erkannten in Niemanns Worten und Mimik Anhaltspunkte von Unsicherheit und Unwahrheit.

Ein mehrfacher Betrüger, der in seinen Worten alles dafür tun würde, um an die Weltspitze zu kommen, wird umso schärfer beäugt.

Bei der Aneinanderreihung von Wutanfällen mit Schimpfwörtern ist der gelernte Aggressionstherapeut von Natur aus skeptisch. Wer den ganzen Tag Schach trainiert, kann durchaus verhaltensgestört und zum Fachidioten werden. Vom Genie zum Wahnsinn ist es historisch bewiesen besonders beim Denksport nicht weit. Steinitz, Morphy, Pillsbury, Rubinstein und Fischer sind unrühmliche Beispiele. Mein Jugendtraum, war ebenfalls Schachweltmeister zu werden. Möglicherweise ließe sich heute dieser Wunsch mit einem unsichtbaren Knopf im Ohr oder einem Signale übermittelnden Implantat verwirklichen. Stockfisch 15, das stärkste Computerprogramm mit 3542 Elo, würde in Zusammenarbeit mit einem Komplizen auf betrügerische Art und Weise dazu beitragen.

Auf der Suche nach der ersten künstlichen Schachintelligenz in Verbindung mit einem verborgenen Dritten ist eine Zeitreise in das Jahr 1769 angesagt. Der erste Schachroboter wurde als mechanischer Schachspieler mit orientalischem Aussehen geboren. Als Schöpfer fungierte der österreichisch-ungarische Hofbeamte und Mechaniker Wolfgang von Kempelen. Dieser erlangte durch seine spezielle Konstruktion zu solch einer großen Berühmtheit, die ihm sogar Einladungen an Königshöfe verschaffte. Als umgangssprachliche Bezeichnung setzte sich damals “der Schachtürke” durch. Anstelle eines ausgeklügelten Uhrwerks, verbarg sich ein kleinwüchsiger, menschlicher Schachspieler hinter der Fassade. Die mechanische Übermittlung der Spielzüge geschah jedoch über Jahrzehnte wie von Geisterhand, ohne das gut gehütete Geheimnis preiszugeben. Es ist ja so, dass ein Magier seine Zaubertricks nicht offenbart, denn sonst würden seine Einnahmen wegfallen. Aber irgendwie kam der Schwindel doch ans Licht. Es mag sein, dass ein Zuschauer auf dem Jahrmarkt “Feuer, Feuer” gerufen, oder Friedrich der Große eine große Geldsumme geboten hat, um dahinter zu kommen.

Wenn man sich die neuere Geschichte der Schachbetrüger ansieht, fällt auf, dass die Antagonisten überhaupt kein schlechtes Gewissen zeigen. Sie fühlen sich unschuldig und schummeln einfach weiter, wenn sie können. Als Beispiel dient der blinde Norweger Tholo Bjørnsen, der über seine eingesetzten Hilfsmittel zur Partieaufzeichnung log, bis sich die Balken bogen. Borislav Ivanov aus Bulgarien weigerte sich, seine riesigen Schuhe auszuziehen und wurde disqualifiziert. Später kam eine Verhaftung dazu, weil er gefälschte Führerscheine verkaufte. Der Betrug stank nicht nur wegen seiner ungewaschenen Socken bis zum Himmel. Für starke Spieler ist es eine große Belastung, wenn sie genau wissen, dass ihr Gegner den Computer als Hilfe benutzt, aber der Beweis schwer zu erbringen ist. Also sind Skeptiker auf einen Toilettensitz geklettert und haben ihre Kontrahenten über der Trennwand beim Beschiss zugesehen. Davon gibt es sogar Videos. GM Igors Rausis analysierte auf seinem Smartphone, ohne wirklich sein Geschäft zu verrichten, und Patrycja Waszczuk aus Polen wurde in ähnlicher Weise überführt und gesperrt.

Die Presse freut sich über die Vermutung von vibrierenden Anal Beads, aber nichts Genaues weiß man nicht. Also löscht Elon Musk besser seinen anstößigen Tweet, um sich nicht an einer Hexenjagd zu beteiligen. Funktionäre des Deutschen Schachbunds machen sich als Fürsprecher von Niemann stark. Ein Vorwurf an Carlsen ist, einen Teenager feige vor den Bus des Internetmobs geworfen zu haben. Der Weltschachverband schaltet sich sogar ganz aktuell durch einen Untersuchungsausschuss in die Kontroverse ein.

Carlsen gegen Niemann. Wer gewinnt?

Die Suche nach Wahrheit gestaltet sich am Ende unter dem geltenden Gesetz der Unschuldsvermutung als besonders schwierig. Es häufen sich allerdings immer mehr Indizien, die für eine Verurteilung ausreichen könnten. Meine Meinung als Berechner von Wahrscheinlichkeiten habe ich in Forenbeiträgen ausführlich kundgetan. Dadurch stieg ich nicht unbedingt in der Beliebtheitsskala mancher Schachfreunde. Als bestes Kompliment bekam ich zurück, der Anwalt von Magnus Carlsen zu sein. Ich schließe mit einem meiner Lieblingsverse aus dem Buch der Bücher:

Der Mensch sieht, was vor Augen ist, ich aber sehe ins Herz.