Die Leichtathletik-Weltmeisterschaft

 

Jonathan Fischer plante seinen Sommerurlaub und begab sich in ein im Stuttgarter Königsbau befindliches Reisebüro. Er besorgte sich Informationsmaterial über Tansania und Kenia, um es zu Hause zu studieren. Der ehrgeizige Sportler wollte den höchsten Berg Afrikas, den Kilimandscharo besteigen. Da begegnete ihm eine Schar singender Christen in der Haupteinkaufszone Stuttgarts, deren Lieder er Gehör schenkte. Ein nicht unattraktives Mädchen sprach ihn an und gab ihm eine Einladung für einen offenen Abend des CVJM. Als Katholik mied Jonathan jeglichen Kontakt zu evangelischen Gottesdiensten, weil er sich nie vorstellen konnte, wie seine Tante Gertrude Elisabetha das Glaubenslager zu wechseln. Dieser Luther gab ihm sowieso ein unangenehmes Gefühl, wenn er das „Gegrüßet seist du Maria“ betete. Auf der Einladung stand Multivisionsschau über die Schönheit der Landschaft Kenias mit anschließender Missionsreportage des evangelischen Pfarrers Georg Müller. Das verblüffte Jonathan stark. Der Reise-Interessent nahm sich vor, die Veranstaltung am selben Abend zu besuchen, aber vor dem zweiten religiösen Teil zu verlassen. Die Schönheit der auf einer großen Leinwand projizierten Bilder war unbeschreiblich und übertraf seine vielfältigen Eindrücke, die er durch das Fernsehen hatte bei weitem. Er sah sich in Gedanken in der morgendlichen Dämmerung den Mount Kenia besteigen, um selbst life das atemberaubende Schauspiel der kenianischen Landschaft von oben betrachten zu können. Später würde er in eines der zahlreichen Fischerboote am Viktoriasee einsteigen und die sich im Wasser orange schimmernden Flamingoschwärme mit seiner Kamera festhalten. Er träumte und vergaß ganz, dass es an der Zeit war die Flucht zu ergreifen. Die sympathische Stimme, die durch den Großdiavortrag führte, fing nun an von zahlreichen Wundern, die sich auf dem Missionsfeld mit der Stammesgruppe der Massai ereigneten, zu berichten. Aufgrund anderer Reportagen glaubte Jonathan, man sollte diesem stolzen Nomaden- und Hirtenvolk seinen Naturglauben belassen, aber gerne ließ er sich durch die positiven Geschehnisse vom Gegenteil überzeugen.

Was dann folgte sollte Jonathans Leben komplett verändern. Pfarrer Müller begann über Golgatha zu predigen und fragte die Zuhörerschaft wer sein Leben neu Jesus Christus weihen möchte.

Jonathan hatte einen Menschen noch nie in der Art und Weise wie Georg Müller über den Tod am Kreuz sprechen hören. Er empfand, als ob jedes Wort der Rede tief in das Innere seines Herzens eingebrannt wurde und es war so, dass er sich Jahre später noch an Einzelheiten des Gesagten erinnern konnte. Jonathan wurde es ganz mulmig und sein schmaler Oberkörper erschauderte, als der Geistliche am Ende des Vortrags gerade auf ihn zuging und fragte, ob er für ihn beten dürfe. Sie begaben sich in einen Nebenraum des der evangelischen Kirche gehörenden Gebäudes und setzen sich auf zwei Stühle. Georg, der Hirte, legte seinen Arm um Jonathans Schulter und fragte liebevoll was sein größter Herzenswunsch wäre. Jonathan erzählte von seinen Plänen mit der Keniareise und wie sehr ihn die Vorführung begeistert hatte. Müller fand die Idee genial und erkundigte sich, ob er verheiratet wäre oder eine befreundete Person mitnehmen wollte. Das traf den Nagel auf den Kopf. Denn Jonathan fühlte sich trotz zahlreicher Freunde sehr einsam und hatte vor, die Reise als Rucksacktourist alleine anzutreten. Ja, sein größtes Verlangen bestand darin, eine Frau zu finden. Seelsorger Müller versicherte Jonathan, dass Gott genau die passende Partnerin für ihn vorgesehen hat und er ihm vertrauen soll, dieser zum exakt richtigen Zeitpunkt zu begegnen. Es wäre überaus wichtig, bei allem was er tut nach Gottes Willen und Plänen zu fragen und immer zuerst nach Gottes Reich zu trachten. Diesem Ratschlag wollte der Jesus-Jünger bedingungslos folgen. Jonathan freute sich noch besonders über ein Neues Testament, das er bei der Verabschiedung überreicht bekam. Er las jeden Abend mehrere Kapitel des Taschenbuchs und war nach einem Monat am Ende, bei der Offenbarung des Johannes angekommen. So sonderbar ihm vieles in dem Buch der Bücher erschien, so unerklärlich war Jonathan der plötzliche Unfriede über seine bereits gebuchte Reise. Das Gefühl verließ ihn erst, als er den Flug nach Kenia mit finanziellen Nachteilen stornierte. Nun stand er da und hatte bei seiner Bank zwei Wochen Urlaub eingetragen, die er bald zu Hause verbringen müsste.

 

Der nächste, monatlich stattfindende offene Abend stand vor der Tür, für den Georg Müller einen kenianischen Olympiasieger als Redner engagiert hatte. Der schmächtige Dauerläufer begann temperamentvoll in seiner afrikanischen Art vom übernatürlichen Eingreifen Gottes in seinem Leben zu berichteten. Anscheinend hatte das Laufwunder Rudolph Fixson in jungen Jahren Kinderlähmung gehabt und konnte überhaupt nicht gehen. Neben seinen sportlichen Erfolgen engagierte sich der einen Spendenaufruf gebende Rudolph für die Waisenkinder in der Agape Academy in Kosele und der Agape School in Awendo. Jonathan fiel es schwer, die Lebensgeschichte von Fixson zu glauben. Der Film über die freudig in die Hände klatschenden, singenden Aids-Waisen beeindruckte den seinen Geldbeutel leerenden Deutschen umso mehr. So empfand er diesen Treff genauso überwältigend wie den Letzten. Der Neuling genoss es, die auf eine Leinwand geworfenen Lobpreislieder mitzusingen. So erinnerte er sich, dass er als Kind immer schöne Gefühle hatte, wenn in der Kirche „Großer Gott wir loben dich“ gesungen wurde.

Am Ende der Veranstaltung wurde ein Fahrer für die bevorstehende Leichtathletik-Weltmeisterschaft gesucht. Der Zeitraum deckte sich mit Jonathans Urlaub und ein unbeschreibliches Gefühl der Freude machte sich in ihm breit.

Außer ihm gab es auch keine andere Person, die bereit war zu helfen. Er bekam einen privaten Minibus von einem Arzt der Kirchengemeinde zur Verfügung gestellt, um ein Team mit dem Namen „Sportler für Jesus“ aus den USA herum zu chauffieren.

 

Die erste Fahrt führte ihn in eine ehemalige Militärkaserne im Scharnhauser Park, die zum Athletendorf umgebaut wurde. Durch die Teilnahme an internationalen Schachturnieren beherrschte Jonathan die englische Sprache gut, und so verfolgte er jedes Wort, das im Minibus gesprochen wurde. Die Mitfahrer diskutierten über eine Veranstaltung im Fernsehen, bei der berühmte Sportler von ihrem Glauben berichten sollten. Der Grund des Besuchs war, möglichst viele weitere Athleten für das in einem Kongresszentrum stattfindende Ereignis einzuladen. Es wurden Zweiergruppen gebildet mit dem Ziel, Einladungsschreiben in dem streng überwachten Athletendorf zu verteilen. Zunächst fiel es Fischer schwer bei dieser Verteilaktion mitzuwirken, da sich ein Gefühl der Beklemmung bei ihm einstellte. Seine zur Seite gestellte amerikanische Mitarbeiterin Hera Torch bemerkte das sofort und sagte, er soll nur eine schwere Tasche mit den Prospekten tragen und sich eventuell als Dolmetscher zur Verfügung stellen. Diese klein gewachsene Götterbotin Torch war wie eine feurige Fackel, die ihre Umgebung in Windeseile zu entfachen schien. Nach drei Stunden waren die mitgebrachten fünfhundert Einladungen an Sportler und Trainer der verschiedensten Nationen verteilt. Jonathan war ganz aufgeregt als er Heike, die deutsche Seriensiegerin im Weitsprung erkannte und diese bereitwillig seine letzte Einladung entgegen nahm. Als Belohnung für seinen Mut bekam er von Hera einen Granatapfel geschenkt. Andere Teammitglieder trafen sich in der Zwischenzeit in der provisorischen Athletenkapelle mit bekennenden Christen aus den verschiedensten Ländern. Der Besuch eines Krankenhauses wurde vorbereitet. Am nächsten Tag half Jonathan, ein Mischpult mit Boxen in der Aula des Ruiter Paracelsus-Krankenhauses aufzubauen. Die internationale Sportlerband hatte nur kurze Zeit zum Proben, versprühte jedoch bei ihrem Konzert eine große Freude, die sich durch das ganze Hospital auszubreiten schien. In gleicher Manier schwärmte die bunt aussehende Sportlerschaft am Ende der Gospelsongs in die Zimmer der vier verschiedenen Flügel des Gebäudes. Sie erzählten aus welchen Ländern sie kamen und welche Sportart sie ausübten und leisteten so vielen dankbaren Patienten Gesellschaft.

 

Eines darauf folgenden Abends traf sich das amerikanische Team zusammen mit Pastor Müller und CVJM-Mitgliedern in einer Parkanlage im Zentrum Stuttgarts. Sie sangen englische Lobpreislieder, die mit Gitarre begleitet wurden. Danach dolmetschte der evangelische Geistliche den Leiter des Sportlermissionswerks von Übersee, der Samuel Lay hieß und sein bester Freund war. Es ging wieder darum, dass man sein Leben Jesus übergeben soll. Ein weiteres Mitglied des amerikanischen Teams wurde von Jonathan verdeutscht, und plötzlich kamen etwa zweihundert Leute um zuzuhören. Der Sprecher Richy Hammer war so eine Art Arnold Schwarzenegger, da es kaum ein T-Shirt gab, in das seine Muskelmasse hinein gepasst hätte. Es handelte sich um den ehemaligen US-Landesmeister im Diskuswerfen, der eine unglaubliche Lebensbeichte abgab. Anscheinend hatte er nach seiner Sportkarriere Drogen geschmuggelt und war in einer Todeszelle in Thailand gelandet. Am Ende dieser überaus spannenden Geschichte meldeten sich zwanzig Menschen, die ihr Leben in Gottes Hände übergeben wollten. Es war dunkel geworden und die Versammlung löste sich auf. Jonathans letzte Aufgabe bestand darin, den Bodybuilder und Fitnesstrainer Hammer zu seiner Gastfamilie zu fahren. Er lief mit seinem Fahrgast durch die Parkanlagen zum Auto und erzählte ihm, dass sie durch ein gefährliches Gebiet laufen in dem vor kurzem ein Drogenhändler erschossen worden ist. Richy schaute seinem neuen Freund tief in die Augen und sagte, er fürchte sich vor seinen früheren Berufskollegen nicht, denn wo die Finsternis groß ist würden Christen umso besser scheinen. Jonathan bekam wieder ein mulmiges Gefühl, das sich um ein vielfaches verstärkte als Hammer sich nach kurzer Ankündigung neben einen bedrückt wirkenden Mann auf eine Parkbank setzte und anfing, von der Liebe Gottes zu erzählen. Der deutsche Übersetzer wurde umso bestürzter, als im auffiel, dass die finster ausschauende Gestalt die Freiversammlung zuvor laut beschimpft hatte und nun abermals zu fluchen begann. Plötzlich überschlugen sich die Ereignisse. Der wütende Ansprechpartner zog eine Pistole und sagte er würde Richy das Hirn aus dem Kopf blasen, wenn er noch einen Ton über Jesus spricht oder er ihn sieht, wie er vor einer Menschenmenge predigt. Richy Hammer fing an auf Englisch zu beten: „Keine Waffe die sich gegen mich erhebt wird Erfolg haben.“ Jonathan hatte längst aufgehört zu übersetzen, denn er hatte noch nie so große Todesängste. Doch genau das wollte sein kühner Freund auf Deutsch ausgesprochen haben, nämlich dass sie beide keine Angst vor dem Tod haben. Sie würden sofort in den Himmel kommen, und das wäre genau der Ort, wo der terrorisierende Waffenbesitzer in der Ewigkeit auch hingehört. Auf einmal fing der Bedroher an bitterlich zu weinen und fragte, ob Gott auch Mörder bei sich aufnimmt. Die Atmosphäre hatte sich komplett geändert. Die drei Männer hielten sich an den Händen und beteten gemeinsam um Vergebung. Als Jonathan im Bett war bekannte er Gott, dass er zukünftig im Urlaub nicht wieder auf Schachturniere fährt, wenn das Leben als Christ immer so spannend ist. Ein paar Tage später beim Frühstücken traute er seinen Augen nicht, als er ein Bild des Bedrängers auf der Parkbank in den Stuttgarter Nachrichten erkannte. Es war der Parkmörder, der sich freiwillig bei der Polizei gestellt hatte.

 

Der Zeitpunkt der großen Fernsehreportage war gekommen, an dem berühmte Sportler von ihrem Glauben erzählen wollten. Die Kongresshalle war überfüllt mit Weltmeisterschaftsteilnehmern und Zuschauern. Jonathan erklärte sich kurzerhand bereit als Ordner mitzuarbeiten. Vor der Veranstaltung gab es ein riesiges Buffet mit den köstlichsten Speisen für die Ehrengäste und das Sportler für Jesus Team. Jonathan war fasziniert wie viel Berühmtheiten sein neuer Freund Richy kannte, den er begleitete. Sie trugen beide ein rotes Trikot mit dem Aufdruck des Sporlermissionswerks und begannen, mit verschieden Gästen einen Smalltalk zu halten. Er ahnte nicht, dass ausgerechnet der erfolgreichste US-Leichtathlet und die Hauptattraktion des Abends ein enger Freund des Diskus-Champions Richy Hammer war. Viele Bewunderer fragten sich insgeheim welche leckeren Happen der Weltstar mit Namen Carl bei der Eröffnung des Buffets nehmen würde. Carl hielt eine Banane in den Händen, als er von Richey gefragt wurde, ob er ein gemeinsames Foto mit Jonathan machen dürfe. Er stimmte zu und wollte zunächst die Südfrucht fertig essen. Ausgerechnet in diesem Moment ertönte eine Aufforderung über die Lautsprecher, dass alle Ordner ihre Positionen einnehmen sollten. Jonathan war hin und her gerissen und fragte sich was er tun sollte. Er entschied sich für den sofortigen Ordnerdienst und wurde ins angrenzende Parkhaus abberufen. Anhand des immer wieder hörbaren tosenden Applauses erkannte er, dass die Fernsehsendung zum vollen Erfolg wurde. Ein Trost für ihn war, dass in der elterlichen Wohnung sein Videorekorder alles aufzeichnete.

Jonathan war ein ausgesprochener Hifi-Freak. Anstelle eines Mokicks wie sein Bruder, wünschte er sich von seinen Eltern eine Stereoanlage mit turmhohen Lautsprecherboxen zum sechzehnten Geburtstag. Alfred Fischer unterstützte ihn als Liebhaber von klassischer Musik, weil er die naturgetreue Musikwiedergabe im gemeinsamen Wohnzimmer selber genoss. Andere Blinde profitierten ebenso von Jonathans Technikleidenschaft, da er ihnen für ein kleines Zubrot ihre Audiogeräte verkabelte und programmierte.

 

Der Wunsch Jonathans, die Produktion und Ausstrahlung einer Radiosendung im Innern eines Senders mitzuerleben, erfüllte sich am Morgen nach der Fernsehübertragung. Erst einmal wurde Jonathan zum gemeinsamen Frühstück bei Vera Fischer, der Hausherrin des etwa sechzig Jahre alten Sportlerpastors Samuel Lay, eingeladen. Sie beteten für den Brunch und für den segensreichen Ablauf eines Radiointerviews. Zwei Stunden später befand sich Jonathan in einem Studio des Südwestrundfunks und bekam seine Fragen zur Rundfunkübertragung anschaulich beantwortet. Der Sender wollte ein Interview mit Samuel aufzeichnen. Der Interviewer Elmar war in etwa dem selben Alter wie Samuel und hatte die wärmste Stimme, die man sich vorstellen konnte. Man besprach die Fragen und Jonathan übersetzte, da sein Englisch besser als das des bekannten Moderators war. Ein weiteres erstaunliches Lebenszeugnis wurde verbreitet. Lay erzählte über den Erfolg und die gute Stellung die er im Beruf hatte, als Gottes Reden ihn und seine Frau Anni nach Kenia führte. Er begann dort mit dem Fahrrad Bibeln zu verteilen und predigte zunächst ein Jahr lang in einem Zelt vor einer Schar von neun Zuhörerinnen. Als er nach zwanzig Jahren mit Frau und sieben Kindern die am Viktoriasee gelegene Nyanza-Provinz wieder in Richtung seiner Heimat verließ, betreute er als Bischoff hundert Gemeinden. In diesem Moment wurde Jonathan bewusst, dass sich die Pastoren Georg Müller und Samuel Lay von Afrika her kennen mussten. Das Wachstum des Sportlermissionswerks spielte sich in gleicher Weise ab. Einem kleinen Gebetskreis im Wohnzimmer folgten Einladungen für Sportfeste an Schulen, Auftritte bei Leichtathletik-Meetings von Universitäten, Gottesdienste bei US-Meisterschaften und zuletzt regelmäßige Fernsehprogramme bei Olympiaden und Weltmeisterschaften.

 

Ein neuer Tag bei der Leichtathletik WM in Stuttgart brach an mit der Entscheidung im zweihundert Meter Lauf. Jonathan hätte das Rennen gerne im Fernsehen angeschaut, jedoch war sein Job an diesem Tag Samuel Lay und Richy Hammer in ein Nobelhotel zu fahren. Anhand ihrer Gespräche im Auto erfuhr er, dass sie dort für zwei heimische Sprinter beten wollten, die das Finale erreicht hatten. Samuel hatte einen besonderen Autorisierungspass und besaß dazu eine einzigartige Ausstrahlung, dem selbst das Herbergspersonal nicht widerstehen konnte. So bekam der altertümliche Bus einen Parkplatz direkt am Haupteingang des Inter-Continental-Hotels zwischen diversen Untertürkheimer Luxuslimousinen. Jonathan nahm in der Hotellobby Platz und begann, in seiner mitgebrachten Bibel die Bergpredigt zu lesen. Die englischsprachigen Landsleute würden keinen Übersetzer in dem für sie vorbereiteten Tagungsraum benötigen. Nachdem Samuel seine Ankunft über die Rezeption angekündigt hatte, musterte er das Bibelstudium-Baby, das weit davon entfernt war, einen Master of Theology, wie er abzuschließen. Unverhofft nahm er den jungen Sportfan mit in den illustren Gesprächskreis zweier Weltrekordhalter im Sprint. Aufgrund von ungewohnten medizinischen Fachausdrücken konnte Jonathan nicht alles verstehen. Es ging zunächst um die Bitte um Gesundung von Krankheiten der Familienmitglieder. Jonathan wurde peinlich berührt und war total perplex, als der weltberühmte Leroy ihn fragte, ob er verheiratet sei und ein Anliegen für seine Familie hat. Jonathan hätte jeden seiner Sportkameraden für verrückt erklärt, wenn sie ihm vor der Leichtathletik WM prophezeit hätten, dass amerikanische Olympiasieger nach Stuttgart kommen und in einer freundschaftlichen Fürbitte um eine wunderbare, zukünftige Frau für ihn beten. Ein liebender, humorvoller Vater im Himmel würde dieses Gebet tatsächlich noch erhören. Nun wurde das eigentliche Anliegen, nämlich der bevorstehende zweihundert Meter Endlauf vor Gott gebracht. Jonathan wunderte sich, dass die mit Medaillen überhäuften Sprinter Leroy und Carl nicht selbstsüchtig um den Spitzenplatz bettelten, sondern lediglich wünschten von Verletzungen verschont zu bleiben. Richy der die ganze Zeit mit dabei war, erinnerte sich an das Angebot ein Foto zu schießen. Jonathan kam in die Mitte und wurde von Leroy und dem hundert Meter Weltrekordler Carl für das in Übergröße zu entwickelnde Foto umarmt. Die Athleten und Trainer versammelten sich daraufhin in der Hotellobby. Samuel begrüßte den hinzugekommenen, aktuellen vierhundert Meter Champion Butch und umarmte ihn herzlich. Der Diplomtheologe fing an Butch ungeniert in der Hotelhalle zu segnen und dieser revanchierte sich auf dieselbe Art. Das Personal beobachtete die zwei Amen Rufenden interessiert und erkundigte sich bei Jonathan welcher Glaubensrichtung der Sportlerpfarrer angehört. Daraufhin konnte Jonathan ein kurzes Zeugnis für Christus ablegen.

 

Der Tross bewegte sich im Anschluss daran in Richtung des riesigen, bis auf den letzten Platz gefüllten Stadions. Jonathan war überwältigt als er ohne Eintrittskarte im Pressebereich in der vordersten Reihe Platz nehmen durfte. Er feuerte die lieb gewonnenen Akteure an und beobachtete, wie sie den zweiten und dritten Platz erkämpften. Der aus einem anderen englischsprachigen Land stammende Sieger posierte mit seinen ungewöhnlich großen Bizeps vor der Weltpresse und sprach für alle gut hörbar aus, dass sein Gott größer ist, als der christliche Gott der Konkurrenten. Jonathan kochte vor Wut und musste von Samuel und Richey korrigiert werden, weil er lauthals ein Fäkalwort schimpfte. Sie erklärten ihm, dass Gott immer in Kontrolle ist und ein Nachfolger von Jesus Christus sich besser benehmen soll. Jonathan staunte nicht schlecht als einige Zeit später das lästernde Großmaul des Dopings überführt wurde und damit seine Karriere beendet war.

 

Der letzte Tag der Weltmeisterschaft brach an, ein Sonntag. Jonathan wurde beauftragt, den von der Kinderlähmung geheilten Kenianer Rudolph Fixson aus dem Athletendorf abzuholen und in den evangelischen Gottesdienst mitzunehmen. Diesmal musste die Übersetzung für Fixson simultan von Deutsch auf Englisch bewerkstelligt werden, und Jonathan sollte damit Schwierigkeiten bekommen. Sein viel geliebter Seelsorger Müller predigte in einem Tempo und mit der Energie einer in Fahrt gekommenen Dampflok, so dass der feurige Fixson des öfteren Halleluja trompetete und Hände klatschend applaudierte. Die anderen Besucher, von denen viele dunkelhäutige Sportler waren, fingen an, dasselbe zu tun. Die Atmosphäre des Meetings erhitzte sich zunehmend und glich mehr dem Film „Sister Act“ als einer heiligen Messe. Am Ende geriet der Gottesdienst ganz außer Kontrolle, weil die meisten Besucher wie beschwipst lachen mussten. Sobald das gemeinschaftliche Gelächter abflaute, krümmte sich eines der drei anwesenden Pastorenkinder kichernd auf dem Boden und das Ganze ging von vorne los. Jonathan durfte später nicht nur die zwei Töchter Melanie und Jessica sowie den Sohn Joshua von Georg Müller näher kennen lernen, sondern auch die liebevoll das Mittagessen zubereitende Ehefrau Christa. Die zwei Wochen Arbeitseinsatz gingen zu Ende. Noch nie hatte Jonathan so schöne Ferien verbracht. Er genoss es mit den zwei Müllertöchtern im häuslichen Garten Fußball zu spielen, während der kleine Sohn wippend auf dem Schoß von Rudolph saß. Fixson würde schon bald nach Nairobi heim fliegen und von der Müllerfamilie begleitet werden. Die Familie Müller besaß noch ein zweites Haus ohne Stromanschluss und fließend Wasser, aber mit einzigartigem Blick auf das Naturschauspiel der kenianischen Steppe. Jonathan konnte in seinen Erinnerungen immer wieder von dieser Essenseinladung und von den Ereignissen seines Spezialurlaubs zehren. Er ahnte nicht, dass er dies künftig besonders nötig haben würde.