Jonathan Fischers Kindheit, die Lebensfiktion des „Rufenden Geschenkes“

 

An einem Ostersonntag vor etwa vierzig Jahren wurde der Held dieser Geschichte, Jonathan Fischer in einem Stuttgarter Krankenhaus geboren. Das Baby war sechs Tage über der errechneten Zeit, hatte ein sattes Gewicht von sechs Kilogramm und eine erstaunliche Körperlänge von sechzig Zentimeter. Die Geburtshelferin sprach begeistert von einem Glückskind, da bei der Geburt die Fruchtblase wie eine Mütze um sein kleines Gesicht geflochten war und ein ungewöhnliches Muttermal in Form eines Kreuzes seine Brust zierte. Den Arzt irritierten die Feuermale an der Unterlippe und die Blutschwämmle an der Stirn, die dem Kleinkind ein sonderbares Aussehen verliehen. Nach acht Tagen wurde das Windelkind an der Kopfhaut operiert und bekam dadurch eine merkwürdige Antenne als Nahtnarbe in den vorderen Haaransatz gezeichnet. Und in der Tat sollten sich weiterhin die ungewöhnlichsten Erlebnisse in Jonathan Fischers Leben abspielen. Zunächst einmal waren die äußeren Umstände scheinbar nicht die besten für eine glückliche Kindheit.

 

Jonathans Eltern hatten sich in der Nikolauspflege, einer Einrichtung zur Förderung von Blinden und Sehbehinderten kennen und lieben gelernt. Bevor sie heirateten versicherten die Ärzte, dass die Kinder nicht erblich bedingt blind sein müssen, und so bekamen sie zwei gesunde Söhne. Jonathan war fünf Jahre jünger als sein Bruder Thomas und versuchte diesem Vorbild zunächst in allem nachzueifern. Als eines der ersten Dinge übernahm er seine Legosteine mit denen er sich stundenlang alleine beschäftigte. Viel Spaß bereitete ihm auch, wenn Thomas ihn zum Kicken auf den Jugendhausbolzplatz mitnahm. Beim Ball spielen zu Hause ging auch schon einmal ein Vase zu Bruch, die notdürftig zusammengeklebt wurde, um das wilde Treiben zu vertuschen. Die größte Freude bereitete Jonathan, wenn er mit seinem Bruder Carrera Rennbahn oder Eisenbahn spielte. Als sich die Brüder an einem Heiligen Abend wieder einmal zankten, brachte das Christkind die zwei heiß ersehnten Märklin Lokomotiven erst nach der spätabendlichen Christmette. Das einzige schwerwiegende Erlebnis in Jonathans Kindheit war ein leichter Kindesmissbrauch, und ein kleines Beschwernis empfand er darin, dass seine Eltern keinen Führerschein hatten. Es war schon ein kleines Wunder wie gut die Eltern den Alltag meisterten. Seine geliebte Mutter Anna schmiss den Haushalt mit Bravour und der Vater Alfred ging tagein und tagaus einer eintönigen, die Familie gut versorgenden Bürotätigkeit nach.

 

In der Schule war Jonathan ein von Erfolg verwöhnter Typ. Mit seinen besten Freunden Walter und Frank, mit denen er schon in den Kindergarten gegangen war, stand er im Wettbewerb, wer die besten Noten bekommt. Jonathan erinnerte sich gerne an das gemeinsame Bild mit den von Bonbons gefüllten Schultüten, das vor der Anne-Frank-Grundschule entstand. Denn Walter und Frank Stein waren ein immer identisches angezogenes Zwillingspärchen, das im dreizehnten Stock des Hochhauses Salute im Fasanenhof wohnte. Jonathan residierte genau sieben Stockwerke tiefer in einer gleich geschnittenen Vierzimmerwohnung. Es war logisch, dass die drei Freunde sich immer abwechselnd in den Hochhauswohnungen trafen und viel Freizeit miteinander verbrachten. Der Wolkenkratzer hatte einen riesigen Spielplatz auf dem sie ihre glückliche Kindheit ausleben konnten. Im Winter brausten sie den so genannten Salatbuckel auf dem Schlitten hinunter und im Sommer wurden ausgiebige Fahrradtouren wie ins nahe liegende Siebenmühlental unternommen. Die einzige brenzlige Situation ergab sich, als sie die Kanalröhre der nahe gelegenen Körsch durchforschten, die Orientierung verloren und von der Feuerwehr befreit werden mussten. In der Grundschule erzielten die drei Blutsbrüder in den Klassenarbeiten fast nur Einsen. Sie kämpften und duellierten sich im Pausenhof und wollten auch beim Fußballspiel ausprobieren, wer der Stärkere ist. Ja, auch beim Lösen von Rechenaufgaben, beim ordentlichen Erledigen der Hausaufgaben und selbstverständlich bei den Zeugnissen wollte jeder immer der Beste sein. Die unnatürlichen Drillinge waren unzertrennlich und stellten schnell die Weichen zum Besuch des Gymnasiums.

 

Die größte Freude bereitete Jonathan seine Ferienaufenthalte in einem Schwarzwaldbauernhof in Fischermühlbach. Er hatte einen gleichaltrigen Cousin namens Wolfram mit dem er ähnlich schöne Naturerlebnisse, wie in dem Kinderbuch über Heidi machte. Am Morgen trieben sie gemeinsam die als Reittiere benutzten Kühe auf die Bergweide, und auf dem Rückweg ließen sie ihre Segelflieger in schier unendlichen Schleifen in Richtung Tal gleiten. Die Burschen legten sich regelmäßig in einer Waldlichtung unter die Kühe und zapften deren Euter an. Mit ihren Taschenmessern schnitzten sie Pfeil und Bogen, damit sie vor tollwütigen Füchsen gewappnet wären. Sie liebten es, in der Abenddämmerung von ihrem Opa auf einem Jeep in die umliegenden Jagdgebiete mitgenommen zu werden, um auf verschiedenen Hochständen gemeinsam mit Waldi auf die Pirsch zu gehen. Ihre Bubenherzen schlugen regelmäßig höher, als die kleinen Hofhunde einen Spielkamerad suchten und sie im Gesicht ableckten. Auf nächtlichen Taschenlampen-Ausflügen konnten sie ihre Abenteuerlust ausleben. Sie erschreckten ein frisch verlobtes Liebespaar, als sie mit den Funzeln in ihr Auto leuchteten, um danach schnell das Weite zu suchen. Die Spitzbuben besuchten die im Freien übernachtenden Nachbarjungen, indem sie die Heringe aus ihren Zeltschnüren heraus rissen und sie aufweckten. Als sie es wie Max und Moritz zu weit trieben und die Fahne eines Royal Ranger Camps entführen wollten, wurden sie von der Nachtwache ertappt und unter großem Gelächter gefesselt in eine Jauchegrube gesetzt. Die Oma Marie tröstete sie am nächsten Tag mit ihrem Lieblingsgericht Dummis.

 

Der glücklichste Tag in Jonathans Leben nahte. Er bereitete sich mit seinem Cousin auf die Erstkommunion vor und fuhr jeden Tag mit dem Fahrrad zur Frühmesse. Am Tag des Festes wurde er nicht nur mit den tollsten Geschenken überhäuft, sondern bekam seine erste übersinnliche Gotteserfahrung. Er empfand die Gegenwart Gottes nach der Einnahme des Abendmahls für so überwältigend, dass er spürte, wie durch eine unsichtbare Kraft auf der Kirchenbank festgehalten zu werden, um scheinbar dieses überwältigende Gefühl nie zu verlieren. Es war schon ein ungewöhnlicher Anblick als er alleine im Gottesdienst zurückblieb, während die anderen Buben mit ihren blauen Samtanzügen und weißen Kerzen sich schon auf den Weg vor die Barockkirche begaben. Die Tante Sophie und der Onkel Fritz halfen ihm stützend nach draußen und erklärten, dass er zuviel Weihrauch eingeatmet hatte.

 

Jonathan ging immer wieder in den Schulferien in seinen geliebten Schwarzwald und besuchte zunächst die Großtante Luise Theresia Fischer im Kloster. Sie war schon 84 Jahre alt und trug schon seit ihrem 24. Lebensjahr den Ordensnamen Schwester Hanna. Jonathan wurde zum Kaffee und Kuchen eingeladen und ging danach in die Kapelle, um mit der Schwestertante einen Rosenkranz mitzubeten. Sie saßen beide alleine auf einer vorderen Kirchenbank und rezitierten in Richtung der Mutter Gottes Statue. Am Ende der unendlich ablaufenden Wiederholungen nahm die Ordensfrau seine Hand und fing an zu weissagen: „Du wirst einmal katholischer Bischoff werden und selbst Höheres ist möglich. Bei den Menschen ist es unmöglich, nicht so bei Gott. Alle Dinge sind möglich bei Gott.“ Jonathan wurde angenehm berührt und ihm war ganz warm ums Herz. Anstelle Schachbücher zu wälzen, las er nun die als Geschenk bekommene Familienbibel von vorne nach hinten durch. Freilich verstand er die meisten Geschichten nicht, und die Sache geriet in Vergessenheit. Trotzdem eignete er sich ein Grundwissen an, das ihm später nützlich sein sollte.

 

Weiter ging es in den großen Schwarzwaldhof mit der Adresse Fischermühlbach 22. Jonathan freute sich auf die gemeinsame Zeit mit Wolfram, denn sie trieben gerne viel Unsinn im Stil von Michel aus Lönneberga. Zunächst einmal machten Sie das Pferd von Opa Sepp scheu, indem sie auf ihr Baumhaus kletterten und einen Knallfrosch los ließen. Der unter dem Marillenbaum durchreitende Großvater ahnte nichts und landete gemeinsam mit dem ausgequaktem Feuerkörper auf seinem Allerwertesten im Bach. Ihre Entschuldigung wurde gerade so akzeptiert, so dass sie am Nachmittag mit dem Traktor in den Tannenwald mitgenommen wurden. Auf dem Rückweg beim Einbiegen in die Talstraße fragte der Lenker seinen Gastenkel, ob die Straße frei ist. Jonathan hatte den besseren Blick, weil er erhöht auf dem Kotflügelsitz saß. Gehandicapt durch seine große Zahnlücke in den oberen Schneidezähnen antwortete der Schwabe „Bolisei“, was der schwerhörige Opa mit „sisch frei“ auf alemanisch übersetzte. Ein gehöriger Schlag mit zwei zerstörten Frontpartien war der Zusammenprall. Wenigstens konnten die Polizisten den Unfall gleich aufnehmen und mussten nicht extra anreisen. Am nächsten Tag hatte Sepp sich wieder beruhigt, ging in seinen dunklen Schuppen und machte sich an seiner neuen Schnaps Destillerie zu schaffen. Die Kirschen waren zur Maische geworden, die Maische wurde destilliert und fertig war der Branntwein. Der Opa hatte ein bisschen ein schlechtes Gewissen, weil er noch keine Genehmigung zum Brennen erhalten hatte. Umso mehr freute er sich über die erste Kostprobe des schwarz gebrannten, klaren Kirschwassers. Er wollte noch etwas Quellwasser zusetzen als just in diesem Moment Jonathan draußen rief: „Bolisei, Bolisei, Bolisei!“ Der verschreckte Opa ließ die kostbare Menge von 60 Liter hastig in den benachbarten Fischteich ablaufen. Die beschwipsten Forellen seines Weihers, nahmen sogleich freudig ein Bad an der Sonne und hauchten den Schwarzwälder Geist aus. Jonathan fühlte sich unschuldig, weil jeder der zu Besuch gekommenen Nachbarskinder lediglich eine laute Durchsage seiner gestrigen Verkehrswarnmeldung wiederholt haben wollten. Wenigstens mit der kostbaren Kirschenmaische konnten die Spitzbuben etwas anfangen und verköstigten zunächst die Schweine. Auch die Hühner fanden daran Gefallen, und Waldi der Rauhaardackel wollte auch etwas ab haben. Das folgende Schauspiel erinnerte Jonathan an seine Karussellfahrten und Bierzeltbesuche auf dem Cannstatter Volksfest. Den armen Tieren wurde es schwindelig, sie torkelten auf den Boden und schliefen ermüdet ein. Die schlimmsten Streiche folgten zugleich:

 

Auf einer ihrer Goldschürfungen im Fischermühlbach fanden die Zwei statt der erhofften drei Goldnuggets nur zwei Bleikügelchen, die ein Jäger verschossen hatte. Sie „liehen“ sich ein Luftgewehr aus und probierten, wer der bessere Schütze war. Jonathan zielte auf einen 39 Meter entfernten schwarzen Vogel, den er treffend Willibaldraben nannte. Der Unglücksvogel ruhte sich gerade auf einem magischen vor Unheil schützenden Holzpflock aus. Jonathans Schuss wurde absichtlich 13 Zentimeter über dem großen Schnabel der krächzend davonfliegenden Krähe abgesetzt. Drei ihrer Schwanzfedern waren herunter geflogen und auf dem Misthaufen gelandet. Wolfram visierte mit dem zweiten Schuss zwei etwa 50 Meter entfernt liegende runde rosa Zielscheiben an und traf ebenso gut. Laut quiekend nahm der Eber reiß aus, als er schmerzhaft im Allerwertesten getroffen wurde. Der ahnungslose Gras mähende Opa musste für die Schandtat der Spitzbuben büßen, weil ihn die Sau mit ihren Eckzähnen attackierte und wüst ins Bein biss. Opa Sepp rächte sich und stach das Tier mit seiner Sense in den Tod. Die beiden Pumuckls und das Gewehr hatten sich inzwischen schnell in Luft aufgelöst. Der wie eine gestochene Sau weggelaufene Eber sorgte einige Monate später wieder für gehörigen Munitionsstoff. Der unschuldige Opa zerstörte zwei Füllungen, als er mit ihnen zu explosiv auf das unverhoffte Projektil im geräucherten Schwarzwälder Schinken traf.

 

Jonathan und Wolfram kämpften gerne, um auszuprobieren wer der Stärkere sei. Der sich als klein und zackig bezeichnende Hoferbe gewann mit zunehmendem Alter durch seine Betriebsamkeit die Überhand. Außerdem bezwang Wolfram zahlreiche andere Gegner in seiner Zweikampfsportart Ringen. Jonathan hätte sich nie zugetraut, wie Wolfram den riesigen Zuchtbullen an seinem Nasenring, aus der Deckung zum Ausleben ins Freie zu führen, was ihm großen Respekt einflößte. Die im Regen stehenden Pubertierenden gingen daraufhin lieber zu den Bienen in das Dachhäuschen, um eine aus Zeitungspapier und Sägemehl bestehende Zigarre zu räuchern und ihre Bildung zu vergrößern. Das Betrachten von Häschenanzeigen in den Magazinen, die der große Bruder in dem Penthouse versteckt hatte, fanden die zwei Playboys genau da interessant. Erregenderweise entzündete einer der unachtsam weggeworfenen Sägemehl-Brandsätze das morsche Holz, und wiederum musste die Bolisei anrücken. Diesmal allerdings gemeinsam mit der Feuerwehr. Damit war das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht, und die zwei Lausbuben wurden in zwei Kammern des von weitem sichtbaren gotischen Dorfturmes gesperrt. Jonathan saß links, Wolfram rechts und in der Mitte der Dorfpfarrer Joseph Peccadillo, der die von einem Zettel herunter gelesene Beichte nacheinander abnahm. Zur Strafe musste Jonathan eine Woche lang mit einer Strohgabel das Schafhaus auskehren, und Wolfram transportierte den dampfenden Brei des Ochsenstalls mit einer Karre auf den Misthaufen.

 

Zurück in Stuttgart stellte sich eine gewisse Eifersucht bei dem muffelnden Jonathan gegenüber den hellen Stein-Zwillingen ein. Denn diese begannen, ihn bei den schulischen Leistungen zu übertreffen. Er empfand es als ungerecht, dass seine Eltern nicht Englisch und Französisch sprachen und ihn im Urlaub nicht wie seine Spielkameraden nach New York oder Paris mitnehmen konnten. Auch bei den Hausaufgaben konnte er nicht dieselbe Unterstützung bekommen, wie es durch die akademischen Stein-Eltern möglich gewesen wäre. Eines Tages luden ihn Walter und Frank in die Schachgemeinschaft Fasanenhof ein und ärgerten ihn zunächst, weil sie mehr Trainingserfahrung besaßen und ihm gegenüber haushoch überlegen waren. Doch dieser Besuch sollte Jonathans Leben für Jahre prägen, denn er wurde geradezu süchtig nach diesem königlichen Spiel. Er verschlang ein Lehrbuch nach dem anderen und hatte schnell ein Idol in dem amtierenden Schachweltmeister. So stellten sich die ersten Erfolge ein, und Jonathan bezwang nicht nur regelmäßig seine Freunde, sondern auch die anderen Altersgenossen. Die höchsten Glücksgefühle stellte sich bei Jonathan ein, als er auf einer Landesgartenschau ein von der Dresdner Bank organisiertes Jugendfinalturnier um das grüne Band der Sympathie gewann und mit drei Fünf-Gramm-Barren Gold und einem wertvollen Zinnteller belohnt wurde. Der Traum von Jonathan, selbst Schachweltmeister werden zu wollen wurde bekräftigt, und später sollte er in einem Fernsehwettkampf in Köln tatsächlich gegen sein Idol spielen. Allerdings nicht um die Weltmeisterschaft, sondern er würde schon im Achtelfinale dieses Deutschland-Cups verlieren und ausscheiden.

 

Jonathan verbrachte immer viel Zeit mit den Zwillingen, die sich unterschiedlich entwickelten. Walter kristallisierte sich als der Genialste in der Schule heraus und Frank interessierte sich zunehmend für das weibliche Geschlecht. So sorgte der Gigolo für eine Sensation im Königin-Charlotte-Gymnasium, als er die selbstbewusste Schulsprecherin schwängerte. Die Atomkraftgegnerin und Pazifistin war drei Jahre älter als er und hieß Maxime Trächtig. Jonathan hatte sich hin und wieder gewundert, warum bei den Schultreffen der Friedensinitiative das Licht ausgemacht wurde, um sich im Dunkeln beim Versteckspiel gegenseitig zu begrabschen. Walter durfte mit fünfzehn zum ersten Mal bei Jugend forscht teilnehmen und wurde prompt Bundessieger in Physik, da er die Relativitätstheorie verfeinerte. Er nervte regelmäßig seine Lehrer, weil er sie im Unterricht korrigierte, und selbst das Kultusministerium war vor ihm nicht sicher. Zahlreiche gravierende Fehler in Physik- und Mathematikbüchern mussten wegen der Geistesgröße verbessert werden. Großes Aufsehen erregte Walter durch seine Homepage, auf der er seine neuesten Entdeckungen kostenlos der Wissenschaftswelt zur Verfügung stellte. Sein eifersüchtiger Bruder Frank wurde bösartig und rebellisch. Er ließ sich verbotener weise am kahl geschorenen Kopf tätowieren und piercen. Von Vaterfreuden wollte er überhaupt nichts wissen. Deshalb drängte er seine Liaison zu einer Abtreibung. Somit waren die zwei auffälligsten Spitznamen der Möhringer Schule entstanden. Frank Stein wurde „Frankenstein“ genannt und Walter Stein erhielt den Rufnamen „Einstein“.

In Jonathan reifte der Wunsch, selbst eine Freundin zu bekommen. Sein brüderliches Vorbild Thomy war eine Art Casanova, der ein hübsches Mädchen nach der anderen anbaggerte. Seine Harley Davidson mit dem Nummernschild S-EX 66 würde einmal mit seiner Strichliste von 66 Eroberungen übereinstimmen. Der blond gelockte Jonathan mit seiner großen Zahnlücke war selbst ziemlich verklemmt und wurde seelisch verletzt. Fremde Mädchen in der Straßenbahn, mit denen er flirten wollte, lachten ihn in dem Moment aus, als er begann, seinen breitschaufeligen Mund zu öffnen. Trotzdem hätte er es nach einem Volksfestbesuch schier geschafft, eine bekannte Schachmeisterin in sein Bett zu bekommen. Zu Hause war sturmfreie Bude, und die zärtliche Unterhaltung dauerte bis in die Morgenstunden. Jedoch besaß die Angehimmelte genügend Intelligenz und hatte dazu noch ein feinfühliges Gespür. Die „wahre“ Liebe und Freundschaft verlief im Sande, weil beide merkten, dass er es nur auf eine schnelle Nummer abgesehen hatte.

 

In seiner Bundeswehrzeit stellte sich heraus, dass seine Zahnfehlstellung durch einen Oberkiefertumor bedingt wurde, der ihm operativ entfernt werden musste. Ein Lebensziel von Jonathan war, in die Sportfördergruppe der Bundeswehr aufgenommen zu werden und den Titel eines Schachgroßmeisters zu erhalten. Seine schulischen Leistungen wurden immer schlechter, da er im Unterricht lieber heimlich Schachprobleme löste und insgeheim stolz war, dem Mathematikprofessor seines Clubs in dem gemeinsamen Geisteshobby weit überlegen zu sein. Anstelle auf das schriftliche Abitur zu lernen, besuchte Jonathan in den Weihnachtsferien lieber ein großes Schach-Open in Böblingen, bei dem er unter dreihundert Teilnehmern den geteilten zweiten Platz belegte. Weitere Glückshormone wurden ausgeschüttet, die bald wieder ausgeklungen waren, als er die Noten der Prüfung in Empfang nahm. Er erwartete schon Schlimmes, da er bei der Deutschprüfung so blockiert war, dass er nur drei Erörterungsseiten zustande brachte. 3 Mal 2 von 15 möglichen Punkten in seinen Prüfungsfächern war ein Ergebnis, das seinen Lehrern Glauben machte, dass eine Wiederholung der 13. Klasse unumgänglich sei. Nun erwachte Jonathans Kampfgeist für die Schule. Er war ein Ausdauertyp der extensive Waldläufe absolvierte und viele Schachpartien nur deshalb gewann, weil er seine Konzentration stetig aufrechterhalten konnte. Das taktische Spiel mit den 32 Figuren auf einem 64 feldrigen Brett dauerte nämlich oft 6 bis 8 Stunden ehe ein Resultat feststand. Jonathan fing an, drei Wochen lang bis in die Morgenstunden zu pauken. Als einer der Wenigen wollte er sich in vier Fächern mündlich prüfen lassen, um eine Wiederholung des letzten Schuljahrs zu vermeiden. Ausgerechnet der katholische Priester in seinem letzten mündlichen Prüfungsfach Religion spielte das Zünglein an der Waage. Jonathan liebte und verehrte Pfarrer Benz und dies beruhte auf Gegenseitigkeit. Das zweitschlechteste Abitur mit einem erbärmlichen Notenschnitt von 3,9 war trotzdem ein Grund zum Jubeln und Feiern für beide. Sein Freund Einstein bekam als Schulbester einen für ihn enttäuschenden Notenschnitt von 1,1. Den Doktor und Professor in Physik würde er in Rekordzeit mit den bestmöglichen Resultaten abschließen. Der Bruder Frank Stein hatte ähnliche Konzentrationsprobleme wie Jonathan und schloss mit 3,6 ab. Seinen Traum, Förster zu werden und Bäume fällen zu lassen konnte er somit nicht verwirklichen. Dafür fand „Frankenstein“ als Maschinist in der Holzverarbeitung eine berauschende Betätigung an der riesigen Kreissäge.

 

Den Idealfall das Hobby zum Beruf zu machen, versuchte Jonathan sofort in Angriff zu nehmen. In der Zeit seines Grundwehrdienstes bekam er sogar vom Staat einen Sold, während er in Europa herum reiste, um Turniere zu spielen und seine erstrebten Meisternormen zu machen. Das liebe Geld wurde in dieser Zeit immer wichtiger, schließlich musste ein neues Auto finanziert und unterhalten werden. Jonathan brachte es fertig, sein von den Eltern zur Volljährigkeit geschenkt erhaltenes, erstes Auto zu Schrott zu fahren und sich schier selbst umzubringen. Mit einem lauten Fluch prallte er in einer scharfen Kurve mit seinem VW Golf schräg gegen die Vorderachse eines Lastwagens, als er von lauter Rap-Musik begleitet wieder viel zu schnell gefahren war. Das nächste Auto musste er selbst als Volkszähler und Aushilfsbriefträger hart erarbeiten. Die Konkurrenz der russischen Spieler fing an, Jonathan überhaupt nicht zu gefallen, denn jeder wollte von den Preisgeldern natürlich das größte Kuchenstück abschneiden. Er lernte mit Evgeny einen der Top Ten-Spieler und russischen Supergroßmeister kennen, der in seiner Münchner Bundesligamannschaft die Führungsrolle übernahm. Dank dieser Verpflichtung erreichten die acht Mannschaftsspieler die Europaliga. Jonathan erkannte als er in diesen Höhen ankam, dass er sämtliche Freizeitaktivitäten für seine Sportart opfern muss, um mit den Teamkameraden weiter mithalten zu können. Da kam ihm eine Traineraufgabe wie gerufen. Bedingt durch die Behinderung seiner Eltern verbrachte Jonathan viel Zeit bei Treffen mit Blinden und gerade jetzt wurde ein neuer bezahlter Trainer für die Blindennationalmannschaft gesucht. Ohne viel zu überlegen nahm Jonathan den Job an und erreichte einen ausgezeichneten dritten Platz bei der Blindenschacholympiade in Siebenbürgen mit seiner Mannschaft. Eine folgende Ehrung beim Bundeskanzler Helmut Kohl und Innenminister Wolfgang Schäuble nutzte Jonathan, um einer bezaubernden, früheren Schulkameradin zu imponieren. Sein Selbstvertrauen gegenüber Frauen war nicht nur wegen seiner Erfolge, sondern auch aufgrund einer Zahnkorrektur gewachsen.

 

Die gemeinsame Nacht im Hotel führte jedoch nicht zu dem gewünschten Erfolg. Ihr aktueller Bodybuilder-Lover hatte ihm vor der Abreise ins Palais Schaumburg nach Bonn mit heftigsten Schlägen gedroht, falls er sich nicht keusch verhält, was ihm einen gehörigen Respekt einflößte. Das große Ziel eine Partnerin zu finden, wurde nun in Gedanken vor Gott bewegt. Es wäre doch passend eine starke Schachspielerin zur Frau zu bekommen, brachte der Held dieser Geschichte nach einem Vaterunser vor.

 

Alfred und Anna Fischer wussten nichts von diesen Wünschen und fanden es an der Zeit einer anderen, nämlich beruflichen Veränderung. Jonathan stimmte zu und konzentrierte sich nun auf eine Erfolg versprechende Karriere im Bankwesen. Zu seiner Freude wurde er Klassenbester und von seinen Volksbank-Vorgesetzten vorbildlich gefördert. Die Bezahlung war besser und der Erfolgsdruck in dieser Zeit nicht so groß, was ihm zu einem gewissen Wohlstand verhalf. Als Jonathan Mitte Zwanzig war schmiedete er Pläne, wo er seinen nächsten Erholungsurlaub verbringen soll. Deshalb suchte er ein Reisebüro in der Stuttgarter Königstraße auf. In ihm wurde der Wunsch geweckt nach Kenia zu fliegen. Kenia war das Land vieler Langstreckenläufer, die er bewunderte. In den wenigen Tagen die er in der Einrichtung der Sportlehrkompanie in Warendorf verbringen durfte, trainierte er selbst mit den in der Nachbarstube wohnenden deutschen Mittelstreckenläufern und sah sich mit ihnen gemeinsam Marathonläufe und andere Wettkämpfe im Fernseher an. Jonathan hatte einen guten Ruf in der Sportfördergruppe, da er als Schachspieler im Training mühelos einen zehn Kilometer Waldlauf bewältigen konnte und bei der Vergabe des Sportabzeichens viele andere Leistungssportler im 5000 Meter Lauf abhängte. Er wusste nicht, dass er bald die erstaunlichsten Erlebnisse mit weltberühmten Spitzensportlern machen würde.